Die meisten deutschen Innenstädte sind grauenvolle Orte. Verwaschene, wuchtige Betonfassaden, von denen versiffte Kunststoffverkleidungsteile abfallen. Leuchtreklame für immer dieselben Konsumketten, in denen der Plastikmensch sein buntbedrucktes Fiatgeld wahlweise gegen genormten Plastikfraß, genormte Plastikkleidung oder genormte Plastikspielsachen eintauschen kann. Müllberge. Aufdringliche Bettelbanden. Überall duzt es einen, aber umgeben ist man doch nur von Fremden. Vielleicht steht irgendwo noch traurig eine alte Kirche oder ein alter Brunnen. Aber was sollen sie dort noch – es wäre falsch, zu glauben, dass diese vereinzelten Ausweise einer besseren Zeit „Glück“ hatten, weil sie nicht von den Fliegerbomben oder dem Wahnsinn der modernen Städteplaner getroffen wurden. Nein, sie hatten Pech und fristen nun als ruhelose Zeugen ihrer Zeit ein schmachvolles Dasein.
„Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt“, sagte einst der sozialkritische Karikaturist Heinrich Zille und spielte damit auf das Elend in den wilhelminischen Mietskasernen an. Er ahnte weder, dass man in Zukunft die Unterschicht in Wohntürmen übereinanderstapeln würde, noch, dass man den einfachen Leuten die Ablenkung durch die klassische Schönheit der Parks, Statuen, Marktplätze, Kirchen oder Monumente ganz verwehren würde. Wer weiß denn heute noch, was „Flanieren“ ist?
Wer von der deutschen Stadt, von dieser betongewordenen Erniedrigung des Einzelnen, von dieser zombiehaften Vermassung seiner Bewohnerameisen dringend Abstand braucht, der fährt naheliegenderweise ins Grüne. Autorin Klara macht es vor! Aber es geht auch anders, wie ich kürzlich feststellen konnte. Tatsächlich gibt es in Deutschland auch solche Städte, die seinerzeit nicht im Bomber‘s Baedeker standen und damit ihr historisches Gesamtbild weitestgehend erhalten konnten.
So besuchte ich vor nicht allzu langer Zeit die Stadt Alsfeld, urkundlich erstmals 1222 erwähnt. In dieser Zeit blühten im Reich, dank – man würde heute sagen: – Klimakatastrophe und Bevölkerungsexplosion, hunderte Städte auf. Alsfeld war in dieser Hinsicht keine Besonderheit. Besonders ist dann aber wieder das nahezu geschlossen als Fachwerk erhaltene Stadtbild!
Das Fachwerk, das wir in unzähligen deutschen Orten sehen und das Zeugnis gibt vom handwerklichen Können unserer Vorfahren, ist in den seltensten Fällen noch mittelalterlich. Die große Masse der Fachwerkhäuser stammt wahrscheinlich aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Bausubstanz von Alsfeld ist in dem Sinne also nicht original mittelalterlich, sondern spannt sich über gut und gerne 500 Jahre. Das älteste Haus in Alsfeld, in dem sich heute eine Buchhandlung befindet, ist etwa aus dem Jahre 1350 – so etwas sieht man nicht oft!
Das Schöne am Stadtbild ist also, dass sich trotz der erheblichen Altersspanne der Gebäude alles ineinanderfügt. Alles wirkt harmonisch und passt zueinander und gibt dem Besucher der Stadt das Gefühl, dass man hier an einem wirklich authentischen und sicheren Ort ist. Die Stadt, so vermute ich zumindest, achtet darauf, dass die Geschäftsflächen sich weitestgehend geschmackvoll in das Gesamtbild einfügen.
Es war heiß an diesem Tag, und die Stadt war gut besucht, dennoch hatte man seine Ruhe. Man konnte durch alle möglichen Gassen streifen und entdeckte immer wieder etwas Neues. Wie es wohl wäre, wenn jede Stadt in Deutschland noch ihr charakteristisches Aussehen hätte?
Denn das ist ja der Punkt: Städte hatten mal Charakter, hatten ihre eigenen Bauwerke und ihre eigenen Erzählungen. Die Stadtgesellschaft, das Bürgertum, war exklusiv. „Offen“, um diese hohle Zeitgeistvokabel zu bedienen, war das Stadttor allenfalls am Tage. Man wusste, wen man reinlässt, weil man wusste, was man zu schützen hatte. Man war sich seiner Identität bewusst.
Es gibt sie also noch, die schönen deutschen Städte.