Seit ungefähr anderthalb Jahren sucht und findet die Veganer-Szene trotz all unserer Verpöntheit auch in der rechten YouTube-Ecke Berührungspunkte. Ich selbst habe eine Debatte mit der „Militanten Veganerin“ geführt, mein Kollege Feroz ist seit mehr als einer Sonnenumkreisung selbst Veganer. Grund genug, sich dem Thema mal in einer Kolumne zu widmen.
Der Fahrplan solcher Diskussionen ist schnell erzählt: Allgemein akzeptierte Moralvorstellungen den Menschen betreffend à la Goldene Regel werden auf Nutztiere erweitert und der karnivore Diskutant um einen „ethisch signifikanten Unterschied“ gebeten, der es in Ordnung macht, mit diesen Dinge anzustellen oder anstellen zu lassen, die dich beim Zweibeiner lebenslang in den Knast bringen würden.
Grundprämisse: Moral muss innerlich konsistent und universell anwendbar sein. Gerne wird zum Vergleich eine Alien-Spezies herangezogen, die uns Menschen auf dieselbe Art und Weise behandelt, wie wir es etwa mit Schweinen tun, woraufhin die Frage in den Raum gestellt wird: „Wäre das dann für dich okay?“. Meine Antwort ist, ganz salopp dahingesprochen: „Kratzt das das Alien?“, woraufhin wir in einen Strudel geraten: „Sollte es das Alien kratzen?“ – „Kratzt es das Alien, ob es das Alien kratzen sollte?“, und so weiter. Daher rollen wir es mal grundsätzlicher auf.
Moral muss nicht universell anwendbar sein, im Gegenteil wird ein moralischer Grundsatz sogar fast immer absurd, wenn man versucht, diesen Anspruch an ihn zu stellen. Denn Moral ist nichts, was in der echten Welt, abseits von menschlichen Gehirnen, überhaupt existiert. Sie ist auch keine Gesetzmäßigkeit wie etwa das kleine Einmaleins, der die physische Welt folgt. Wenn ich einen Stein zu einem anderen lege, dann sind es zwei, und zwar egal, ob ich daran glaube oder was ich davon halte. Moralische Vorstellungen haben keine solche ihren Gesetzen unterworfenen Entsprechungen in der echten Welt. Keine Sorge, das hier wird nicht in die Richtung von „Teenager hat ein YouTube-Video über Nietzsche gesehen und fühlt sich jetzt furchtbar edgy“ abdriften, ich spreche mich hier für die Notwendigkeit von Moral aus. In Maßen. Moral, kenn dein Limit.
Moral ist ein psychologischer Mechanismus des Menschen, der es ermöglicht, das Verhalten großer Gruppen zu kontrollieren, ohne es mit der Androhung von Strafen in jedem kleinen Aspekt mikromanagen zu müssen. Das ist etwas Wertvolles, keine Zivilisation könnte ohne diesen Kontrollmechanismus überhaupt existieren. Aber es ist eben gleichzeitig ein Mittel zu einem Zweck, kein Selbstzweck. Moral dient dazu, zum gemeinsamen Wohl und evolutionär betrachtet dem Fortbestehen über viele Generationen den gesellschaftlichen Frieden zu wahren und Verhalten, das, wenn es um sich griffe, zum Niedergang der Gesellschaft und ihrer Mitglieder führen würde, zu unterbinden. Beispiele für solches Verhalten beziehungsweise durch Moral gehemmte gesellschaftsschädigende Emotionen wären etwa Drogensucht, Habgier, Neid oder sexuelle Freizügigkeit, um ein paar wenige von vielen zu nennen.
Für lange Zeit hatte Religion die Rolle inne, die Absolutheit und Unhinterfragbarkeit dieser moralischen Grundsätze zu sichern und so die Gläubigen davon abzuhalten, diese Dogmen aufzuweichen. Das ist so, weil Gott es sagt. Diese Religionen und die darin zementierten Moralvorstellungen wurden evolutionär selektiert, sprich: Ermöglichten sie der an sie glaubenden Menschengruppe, sich auf lange Zeitskalen fortzupflanzen und zu erhalten, blieben sie und breiteten sich aus, taten sie das nicht (oder nicht mehr, da sich etwa die äußeren Bedingungen so geändert hatten, dass sie diesem Zweck nicht mehr dienlich waren) starben sie gemeinsam mit ihren Anhängern aus.
„Das ist so, weil Gott es sagt“ schob auch der Verallgemeinerung moralischer Leitsätze wie der Goldenen Regel einen Riegel vor. Mensch töten böse, das ist so, weil Gott das sagt. Tier töten (und essen) nicht böse, das ist so, weil Gott das sagt. Mit dem Verschwinden der Religion fiel auch dieser Schutzmechanismus, der die Moral davon abhielt, sich zu verselbstständigen. Um Gott zu ersetzen, sucht man sich (oberflächlich) rationale Wege, die in vielen Aspekten selbe Moral zu begründen.
Die Goldene Regel gilt, weil es Freude zu mehren und Leid zu lindern gilt. Warum? Weil das so ist. Man setzte neue Axiome, die wiederum nicht hinterfragbar sein sollten. In unserer heutigen Gesellschaft setzt man diese Unhinterfragbarkeit vor allem mit der Berufung auf geschichtliche Gräuel durch, die wiederzukehren drohen, wenn man mit den Axiomen bräche. Man hat es also geschafft, Gott zu ersetzen, was die Unhinterfragbarkeit angeht, die er moralischen Regeln verlieh. Ob dieser neue Riegel auch das Zeug dazu hat, die Jahrtausende zu überdauern, zweifle ich stark an. Aber das neue Fundament des gesellschaftlichen Moralgefüges hat noch ein unmittelbareres Problem: Es gelang nicht, Gott zu ersetzen, was den Riegel vor (nicht zweckdienlicher) Verallgemeinerung seiner Regeln angeht. Und hier sagt uns der Veganismus guten Tag.
Das gemeinsame Interesse an der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Moralvorstellungen ist ein evolutionäres. Ich will nicht getötet werden, weil ich (auch über mehrere Generationen) fortbestehen will, und deswegen töte ich auch dich nicht. Dass wir beide, werter Leser, diese Massenübereinkunft tief in unser Empfinden graviert bekommen haben, nützt uns selber wie auch der gesamten Gemeinschaft, die wir wiederum als Menschen zum Leben brauchen. Es ist eine Software, die das Verhalten der einzelnen Mitglieder eines Menschenbundes in Schlüsselaspekten gleichschaltet und so unermessliche Vorteile gegenüber einem Gegenentwurf wie Kannibalenstämmen auf Papua-Neuguinea bietet. Die Ausweitung derselben Regeln auf Tiere verfehlt diesen Zweck.