Angesichts des Krieges in der Ukraine und der jüngsten Kampfhandlungen im Nahen Osten sieht nicht nur Stefan Kornelius, Ressortchef Außenpolitik der „Süddeutschen Zeitung“, für den Westen ziemlich schwarz: „Die Staaten Europas und auch die USA haben nicht verstanden, daß eine Niederlage der Ukraine auch ihre Niederlage sein wird – mit gravierenden Folgen für die Ordnung in Europa.“ In diesem Fall nämlich, so Kornelius, werde sich Rußland nach Westen erweitern und die Ukraine vereinnahmen und spalten. Die Alternative, nicht zuletzt unter dem Aspekt des zusätzlichen militanten Geschehens in Nahost, laute daher: „Entweder zwingen die Europäer und die USA den zwei Kriegen endlich ihren Willen auf – oder sie versagen. Dann werden die Kriege ihr Zerstörungswerk vollenden“ (SZ vom 20. April).
Zwei Fragen sind es, die die westlichen Politiker und Kommentatoren umtreiben: Wer ist Putin? Was will Putin? Neutral lassen sich nur die wichtigsten Lebensdaten wiedergeben. Wladimir Wladimirowitsch Putin wurde 1952 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren. Von 1975 bis 1990 arbeitete er für den sowjetischen Geheimdienst KGB, zeitweise in Dresden. Das Amt des Regierungschefs der Russischen Föderation übernahm Putin von August 1999 bis Mai 2000 sowie von Mai 2008 bis 2012. In der Zeit zwischen 1999 und 2008 fungierte er als Staatspräsident – ein Posten, den er seit 2012 bis heute unangefochten innehat.
Im Westen werden die Person Putin und sein System nahezu einheitlich eingeschätzt. Der Kremlherrscher, so heißt es landauf landab, sei ein Kriegsverbrecher, ein skrupelloser, wenn nicht gar verrückter Imperialist. Bei Wikipedia wird die Herrschaft des „Putinismus“ als autoritär, despotisch, revanchistisch, diktatorisch und seit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sogar als faschistisch eingestuft. Der von Putin als „Spezielle Militäroperation“ (SMO) bezeichnete Angriffskrieg trieb sechs Millionen Ukrainer ins Ausland, rund acht Millionen werden als Binnenvertriebene gezählt.
Zu einem differenzierteren Urteil über Person und Absichten des Kremlchefs als die meisten Beobachter kommt der britische Rußland-Experte Mark Galeotti: „Putin handelt rational. Er ist ein zutiefst unheimlicher, rationaler Akteur, der viele seltsame Dinge glaubt. Aber er ist nicht verrückt.“ Putin, so der Brite, wolle die Welt nicht im Chaos versinken sehen, finde aber, es sei das Recht Rußlands, die Regeln des internationalen Zusammenlebens zu ignorieren, wenn es ihm nützt – schließlich täten die USA das auch. Und damit habe Putin ja nicht ganz unrecht (SZ-Interview vom 11. April).
Leider hat sich Galeotti nicht detailliert zu Putins mutmaßlichen Absichten geäußert. Doch dankenswerterweise hatte die „Süddeutsche“ zwei Tage zuvor auf einer ganzen Seite unter der Überschrift „Weil Gott und Putin es so wollen“ Reinhard Flogaus zu Wort kommen lassen. Der Dozent für Kirchengeschichte und Fachvertreter für Ostkirchenkunde an der Theologischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität schildert ausführlich, wie Rußland jetzt politisch und religiös zur „letzten Bastion gegen den Antichristen aus dem Westen“ geworden sei. Logaus zufolge hat die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) unter Patriarch Kyrill ihre theologische Rechtfertigung des Ukrainekriegs kürzlich grundlegend verschärft. Am 27. März verabschiedete das 1993 auf Kyrills Initiative gegründete Weltkonzil des Russischen Volkes (WKRV) in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche eine Grundsatzerklärung zu „Gegenwart und Zukunft der Russischen Welt“ und leitete sie weiter an Parlament und Regierung. In dieser Erklärung wird von einem „heiligen Krieg“ gesprochen und eine staatliche Unabhängigkeit der Ukraine grundsätzlich ausgeschlossen.
In dem Grundsatzdokument heißt es, die „Spezialoperation“ sei „aus spiritueller und moralischer Sicht ein Heiliger Krieg, in dem Rußland und sein Volk bei der Verteidigung des einheitlichen geistigen Raumes der Heiligen Rus die Mission des ´Bewahrersˋ erfüllt und die Welt vor dem Ansturm des Globalismus und dem Sieg des Westens schützt, der dem Satanismus verfallen“ sei. Rußlands Eingreifen in der Ukraine sei „eine neue Etappe des nationalen Befreiungskampfes des russischen Volkes gegen das verbrecherische Kiewer Regime und den dahinterstehenden kollektiven Westen“. Mit der Waffe in der Hand verteidige das russische Volk das Recht, „auf seinem eigenen Land innerhalb der Grenzen des vereinigten russischen Staates zu leben“.
Was damit gemeint ist, geht aus der Forderung hervor, nach Ende des Krieges müsse „das gesamte Territorium der modernen Ukraine in eine Zone des ausschließlichen Einflusses Rußlands übergehen“. Im übrigen, so zitiert Logaus die Erklärung, werde Rußland „zu der seit mehr als drei Jahrhunderten bestehenden Doktrin der Dreieinigkeit des russischen Volkes zurückkehren, wonach das russische Volk aus Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen besteht, die Zweige (Unterethnien) eines Volkes sind“. Das bedeutet, daß es weder für die Ukraine noch für Belarus (Weißrußland) echte Unabhängigkeit geben wird, da angeblich alle Ostslawen Teil ein und desselben Volkes und Nachkommen des historischen Rußlands sind.
Bereits 2007 hatte Putin die Stiftung „Russkij Mir“ („Russische Welt“) gegründet. Im Dezember 2022 fand in Stawropol ein regionales Forum des Weltkonzils des Russischen Volkes (WKRV) statt mit dem Titel „Heiliger Krieg – Transfiguration Rußlands“. Und in seiner Rede auf dem Konzil im November 2023 erklärte Putin, die „Russische Welt“ umfasse „die alte Rus, das Moskauer Zarenreich, das russische Zarenreich, die Sowjetunion und das moderne Rußland“.
Alexander Dugin, Philosoph und Mitglied im Präsidium des Weltkonzils, hat Putins „Spezielle Militäroperation“ (SMO) geopolitisch überhöht:
„Die SMO ist der Beginn des eschatologischen Kampfes zwischen der heiligen Tradition und der modernen Welt, der gerade in der Form der liberalen Ideologie und der globalistischen Politik seinen finstersten, giftigsten und radikalsten Ausdruck erreicht. Aus diesem Grund sprechen wir zunehmend vom Armageddon, der letzten entscheidenden Schlacht zwischen den Armeen Gottes und Satans.“
Obwohl sie nicht zur „Dreieinigkeit des russischen Volkes“ gehören, fürchten sich daher jetzt auch die der EU und der NATO beigetretenen Polen und Balten – ob zu Recht, weiß niemand.
Während der Westen den Kampf zwischen Autokratien und Demokratien beschwört, geht Dugins Geschichtsphilosophie davon aus, daß alle Geopolitik bestimmt wird vom „ewigen Gegensatz zwischen der Zivilisation des Landes und der Zivilisation des Meeres“. Landmächte basierten auf den Werten einer heiligen Tradition, auf der Pflicht und einer hierarchischen Ordnung; Seemächte mit ihren internationalen Handelssystemen veränderten sich dagegen ständig, ihre Werte seien nur relativ. Dugin zufolge verkörpern Rußland und Eurasien heutzutage den Kern der Landzivilisation. Den Pol der Meereszivilisation bilde demgegenüber die angelsächsische Einflußzone – vom britischen Empire über die USA bis zum Block der Nato. Der moderne Westen sei somit das klassische Karthago. Das Konzept der Landzivilisation indes verfechte nicht nur Rußland, es entwickle sich auch in China, Indien, in der islamischen Welt sowie in Afrika und Lateinamerika.