Aus dem sechsten Kapitel von Odin, Nietzsche und der Pfad zur linken Hand
Die größten Verbrechen sind immer die im Namen des Gesetzes. Das ist keine neue Erkenntnis. Beispielsweise brachte es Baron de Montesquieu, ein Staatstheoretiker der Aufklärung, der noch heute Debatten beeinflusst, schon im 18. Jahrhundert wie folgt auf den Punkt:
“Es gibt keine grausamere Tyrannei als die, die unter dem Deckmantel der Gesetze und mit dem Schein der Gerechtigkeit ausgeübt wird.”
Doch diese alten Erkenntnisse setzen sich in der Masse nicht durch – vor allem weil die Masse schlichtweg nicht versteht, was ein Staat ist. Nicht weil das zu kompliziert ist, sondern weil die staatliche Gehirnwäsche zu gut funktioniert. Jedes Kind kann intuitiv verstehen, was das Kernproblem des Staates ist: Stellen wir uns vor, eine Gruppe von Kindern streitet sich immer wieder – beispielsweise darum, wer mit welchem Spielzeug spielen darf oder wer die Gruppe anführt.
Diese Streitereien haben bereits mehrfach zu Tränen geführt, und einige Male haben sich ein paar der Jungs sogar geprügelt. Die Kinder werden sich auf absehbare Zeit den gleichen Schulhof teilen, sie können sich also nicht einfach immer aus dem Weg gehen. Der Schulhof hat nur ein Klettergerüst, und auf dem können nicht alle Kinder gleichzeitig klettern, da geht es schon los. Die Kinder erkennen also, dass sie ihr Miteinander irgendwie regeln müssen, wenn sie nicht ständig Streit, Prügeleien und Tränen haben wollen.
Eins der Kinder macht daraufhin einen Vorschlag: „Wenn sich das nächste Mal zwei von euch streiten, dann werde ich entscheiden, wer Recht hat. Dann gibt es keinen Grund mehr, sich zu prügeln und dann muss auch keiner mehr weinen.“
Ein anderes Kind fragt: „Also wenn zwei von uns gleichzeitig mit demselben Spielzeug spielen wollen, dann entscheidest du, wer zuerst dran ist?“ Das erste Kind bejaht: „Genau, ihr fragt mich einfach bevor der Streit richtig los geht, ich entscheide dann und so muss keiner mehr weinen.“ Die meisten Kinder nicken zustimmend.
Doch ein drittes Kind fragt: „Was ist, wenn du selbst in einen Streit gerätst? Wer entscheidet dann?“ Das erste Kind weicht aus: „Das wird nicht passieren, ich halte mich ja zurück und habe kein Interesse an Klettergerüst und Spielzeug.“ Die anderen Kinder gucken sich fragend an.
Das dritte Kind fragt nochmal nach: „Aber was, wenn doch? Was ist, wenn du eines Tages doch ein Spielzeug haben willst oder aufs Klettergerüst willst, wenn es schon voll ist? Wer würde dann entscheiden?“ Das erste Kind antwortet: „Das wird nicht passieren. Aber ich entscheide über jeden Streit. Sonst herrscht doch Chaos. Wenn noch andere entscheiden könnten, dann wären wir doch wieder bei der alten Streiterei und es gäbe doch wieder Prügelei und Chaos.“
Das dritte Kind wendet sich an die Gruppe: „Wenn wir das so machen, dann kann er auch entscheiden, wenn er selbst das Spielzeug haben oder aufs Klettergerüst will. Er sagt jetzt, dass er das ja gar nicht will, aber was ist, wenn er sich das morgen anders überlegt? Wenn wir ihm zugestehen, in jedem Streitfall zu entscheiden, auch in solchen, in die er selbst verwickelt ist, dann kann er auch selbst Streit anfangen und dann für sich entscheiden. Wollt ihr das?“
Wahrscheinlich würden sich die Kinder nicht darauf einlassen. Sie erkennen intuitiv, dass es problematisch ist, wenn einer immer alles entscheiden kann. Für diese Regelung – das erste Kind als Schlichter aller Konflikte – spricht jedoch seine Einfachheit. Jeder kann diese einfache Regel verstehen und niemand muss sich mehr Gedanken über das Thema Streitschlichtung machen.
Aus dieser Perspektive ist die Regelung gut, da sie den Einzelnen von Eigenverantwortung befreit. Falls die Gruppe dem ersten Kind sehr viel Vertrauen entgegenbringt und es in letzter Zeit wirklich viel Streit und Tränen gab, dann wird der Vorschlag vielleicht doch akzeptiert. Wenn der Leidensdruck groß genug ist, werden Menschen auch Regelungen akzeptieren, von denen sie genau wissen, dass sie problematisch sind.
Doch eins muss klar sein: Wenn die Kinder den Vorschlag des ersten Kindes annehmen, dann ist kein Spielzeug und kein Pausenbrot mehr sicher. Das erste Kind kann mit seinem Entscheidungsmonopol zwar jeden Streit anderer Kinder schlichten, und so Prügeleien und Tränen vermeiden, aber es kann auch jeden Konflikt zwischen sich und anderen Kindern zu seinen Gunsten entscheiden.
Wenn das erste Kind das Spielzeug oder das Pausenbrot eines anderen Kindes haben möchte, ist jeder Streit um das Objekt der Begierde von vornherein sinnlos, da das erste Kind jeden Konflikt entscheiden kann.
Mit dieser enormen Macht ausgestattet kann das erste Kind auch andere Kinder um sich scharen – für den Fall, dass andere Kinder sich eines Tages seinen Entscheidungen widersetzen. Zu Beginn kann das erste Kind einfach Entscheidungen zu Gunsten bestimmter Kinder treffen, um diese Kinder auf seine Seite zu ziehen. Ein Spielzeug hier, ein Pausenbrot da.
Andersherum können auch andere Kinder die Gunst des ersten Kindes erlangen, indem sie ihm Spielzeug und Pausenbrot anbieten. Solange die Gruppe das erste Kind als Endrichter in allen Konflikten akzeptiert, bremst nur das Gerechtigkeitsempfinden des ersten Kindes seine Machtakkumulation. Falls das erste Kind großen Appetit nach den Pausenbroten der anderen Kinder verspürt, können so Zustände eintreten, in denen die Gruppe insgesamt unzufrieden mit der Regelung wird.
Wenn das erste Kind seine Macht offensichtlich missbraucht, Spielzeug hortet und viele Pausenbrote anderer Kinder verzehrt, dann wird die Gruppe beginnen, über die Absetzung des ersten Kindes zu sprechen. Je nachdem, wie ihnen das erste Kind in letzter Zeit mitgespielt hat, werden die einen Kinder schnell eine neue Regelung fordern und die anderen Kinder trotz allem an der alten Regelung festhalten wollen.
Das kann das erste Kind natürlich beeinflussen, indem es mittels seines Entscheidungsmonopols genug andere Kinder begünstigt und nur eine Minderheit systematisch benachteiligt. Diese Minderheit kann ihre Benachteiligung dann nur dadurch beenden, dass sie nicht mehr mitspielt und das erste Kind und seine Anhänger ignoriert.
Falls das erste Kind und seine Anhänger diese Abspaltung nicht akzeptieren, kommt es zum ungeregelten Konflikt, der dann durch das Recht des Stärkeren anstatt durch das Recht des ersten Kindes entschieden wird. Da das erste Kind jedoch seine Privilegien geschickt genutzt hat, weiss es die Mehrheit auf seiner Seite – so dass die Spielverweigerer kaum eine Chance haben.
Falls das erste Kind jedoch unvorsichtig wird und den Bogen überspannt, einfach zu gierig ist und nicht nur eine Minderheit sondern die Mehrheit systematisch ausnutzt, dann wird es bald die Mehrheit gegen sich haben und sein Entscheidungsmonopol verlieren. In dem Moment wird es auch die meisten seiner verbleibenden Anhänger verlieren, schließlich hielten diese ja deswegen zu ihm, weil sie so an den Privilegien des ersten Kindes teilhaben konnten.
So zerfällt die alte Ordnung und die Karten werden neu gemischt. Vielleicht genießt die ganze Gruppe nun eine Zeit ganz ohne Entscheidungsmonopolisten, in der sich einfach jeder wieder um sich selbst kümmert, seine eigenen Pausenbrote isst, mit seinem eigenen Spielzeug spielt und freiwillig untereinander Absprachen trifft.
Doch diese Zeit wird nicht lange halten. Schon bald wird es wieder die ersten Streits, Prügeleien und Tränen geben. Bald ist die Unzufriedenheit mit den ganzen Streits wi
eder groß genug, um nach einem Schlichter zu rufen. Die Kinder erinnern sich zwar noch an den Machtmissbrauch des letzten Schlichters, doch sie hoffen, dass es nur darauf ankommt, dass der richtige von ihnen gewählt wird. Und so beginnt das Spiel von neuem.
Dieses Spiel spielen auch die Erwachsenen. Mit Geld statt Pausenbroten und Krieg und Konzentrationslagern statt Prügeleien und Tränen. Und dieses Spiel werden sie spielen, bis sie einsehen, dass es nicht darauf ankommt, wer das Entscheidungsmonopol innehat, sondern dass es auf seine Existenz an sich ankommt. Solange nicht gleiches Recht für alle gilt, kann es keine Gerechtigkeit geben.
Und wenn einer jeden Konflikt entscheiden kann, inklusive solcher Konflikte, in die er selbst verwickelt ist, dann gilt ganz offensichtlich nicht gleiches Recht für alle.
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