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Die Tragödie der Ukraine

6. März 2022
in 4 min lesen

Vielfältig sind meine Gefühle und Gedanken angesichts der ukrainischen Tragödie. Als Mensch: Mitleid und tiefe Trauer. Als Deutscher: Beschämung angesichts des Muts und der Tapferkeit, mit der sich viele Ukrainer für Volk und Nationalstaat einsetzen — Wesenheiten, die hierzulande längst einem hedonistischen Individualismus anheimgefallen sind. Als politischer Beobachter: Wut über die selbstverschuldeten Unausweichlichkeiten, mit denen ein geopolitischer Konflikt in der Katastrophe enden mußte. Als alter Mann, der mit 21 Jahren die Kuba-Krise miterlebt hat: Angst vor dem nervlichen Versagen der Verantwortlichen auf beiden Seiten – der westlichen im weitesten Sinne und der russischen.

Auslöser der Kuba-Krise im Oktober 1962 war die heimliche Stationierung sowjetischer Raketen auf der Karibikinsel. Wahrer Hintergrund war jedoch die bereits im Januar 1959 ebenso geheime Stationierung nuklearer US-Mittelstreckenraketen des Typs Jupiter in der Türkei, die gegen die UdSSR gerichtet waren. Der Konflikt, der beide Supermächte an den Rand eines Atomkriegs führte, endete mit einem Kompromiß: Die Russen zogen ihre Raketen von Kuba ab, die USA erklärten sich im Gegenzug bereit, auf eine Invasion der Insel zu verzichten und – unter ausdrücklicher Geheimhaltung – die Jupiter-Stellungen abzubauen.

Der Abzug aus der Türkei fand etwas später und wiederum unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, um Washingtons NATO-Partner nicht zu brüskieren und die Regierung Kennedy als Sieger darstellen zu können. Auch im Fall Ukraine liegen Ursache und Wirkung ähnlich, was in der westlichen Darstellung ausgeblendet wird. Als China und die USA 1978 diplomatische Beziehungen aufnahmen,
erklärten sie in einem gemeinsamen Communiqué,

„keine der beiden Seiten sollte im asiatisch-pazifischen Raum oder in anderen Teilen der Welt die Hegemonie anstreben, und jede von ihnen ist gegen die Bestrebungen irgendeines anderen Landes oder einer Gruppe von Ländern, eine solche Hegemonie zu errichten“.

Diese Deklaration bedeutete damals das Ende der auf der Konferenz von Jalta 1945 besiegelten Zweiteilung der Welt im Zeichen der Dominanz der Supermächte USA und UdSSR sowie die Ankündigung einer völlig neuen Kräftekonstellation im Sinne einer globalen Multipolarität.

Daß sich Washington an die seinerzeitige Vereinbarung halten würde, war jedoch nicht zu erwarten. Angesichts des Zusammenbruchs des Ostblocks und des wirtschaftlichen und politischen Chaos in Rußland stellte Präsident Barack Obama vor Absolventen der Militärakademie West Point klar:

„Die USA sind die eine, die unverzichtbare Nation… Die Frage ist nicht, ob Amerika führen wird, sondern wie wir führen werden.“

Im 21. Jahrhundert sei amerikanischer Isolationismus keine Option. In seinem 1997 veröffentlichten Buch The Great Chessboard (auf deutsch 1998: Die einzige Weltmacht — Amerikas Strategie der Vorherrschaft) hatte Zbigniew Brzezinski die Politik beschrieben, die die USA nach dem Kollaps des Ostblocks und dem Niedergang Rußlands einschlagen sollten, um ihre Spitzenposition zu behalten. Hauptschauplatz, so der einstige Sicherheitsberater Präsident Carters, werde Eurasien sein, wobei die Ukraine die Schlüsselrolle
spiele:

„Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr… Wenn Moskau allerdings die Kontrolle über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen und wichtigen Rohstoffen sowie dem Zugang zum Schwarzen Meer zurückgewönne, würde Rußland automatisch wieder in die Lage versetzt, ein mächtiger und imperialer Staat zu werden, der sich über Europa und Asien erstreckt.“

Wer hinter dem Ende 2013 mit dem Köder eines EU-Assoziierungskommens in Szene gesetzten und sich 2014 zuspitzenden Drama um den Kiewer „Euro-Maidan“ das Drehbuch Brzezinskis vermutete, war damals und ist heute sicher kein Verschwörungstheoretiker, denn jene graue Eminenz beriet auch den seinerzeitigen Präsidenten Obama. Bereits in den Jahren zuvor hatte sich die NATO entgegen dem Versprechen mehrerer westlicher Politiker gegenüber dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow ab 1999 kontinuierlich Richtung Osten erweitert.

Von Norden nach Süden bilden seitdem Estland, Lettland und Litauen zusammen mit Polen,Tschechien, der Slowakei und Ungarn sowie mit Rumänien und Bulgarien einen Halbkreis um Belarus und die Ukraine als den beiden letzten verbliebenen Pufferstaaten vor der Russischen Föderation. Immer wieder, besonders eindringlich 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, mahnte Putin unter Verweis auf den Bruch der einstigen Versprechen, Moskaus Sicherheitsinteressen nicht weiter zu verletzen. Als sich Rußland am 18. März 2014 nach einem Referendum die Krim mit ihren mehr als zwei Millionen Bewohnern einverleibte, wurde dies im Westen unisono als „Bruch des Völkerrechts“ verurteilt und die Rückgabe der Halbinsel an Kiew gefordert. Unstrittig ist jedoch, daß sich das Zarenreich unter Katharina der Großen im ersten russisch-türkischen Krieg 1774 mit der Eroberung der Krim erstmals den Zugang zu einem „warmen Meer“ sicherte — ein schon von Peter I. angestrebtes Ziel. Als „Neurußland“ (Noworossija) gliederte Katharina die Gebiete im Süden und Osten der heutigen Ukraine ihrem Reich ein und ließ sie nicht zuletzt durch die Anwerbung ausländischer Kolonisten besiedeln. 1802 wurde Noworossija (heute im Kern die von Moskau annektierten „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk) eine Provinz des Zarenreiches und blieb bis 1917 integraler Bestandteil Rußlands.

Erst die Bolschewiki traten die Region an die 1919 neugebildete „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ ab — warum, das wisse „nur Gott“, erklärte Präsident Putin im April 2014. Genauso schleierhaft sei nicht nur ihm das Motiv des damaligen Parteichefs Nikita Chruschtschow, der 1954 die Krim seiner ukrainischen Heimat zum Geschenk machte. Es war somit keineswegs „billige Propaganda“, wie manche im Westen meinten, sondern Putin konnte mit vollem Recht in seiner Rede vom 21. Februar, drei Tage vor dem Einmarsch in das Nachbarland, erklären:

„Die moderne Ukraine wurde vollständig von Rußland geschaffen, genauer gesagt vom bolschewistischen, kommunistischen Rußland. Dieser Prozeß begann praktisch unmittelbar nach der Revolution von 1917… Die sowjetische Ukraine ist das Ergebnis der Bolschewiki und kann zu Recht als ́’Wladimir Lenins Ukraine‘ bezeichnet werden. Er war ihr Schöpfer und Architekt.“

Und in der Tat: Von einer Ukraine war noch keine Rede, als Rußland unter Zarin Katharina das nördliche Ufer des eisfreien Schwarzen Meeres endgültig gewonnen, damit die natürliche Grenze im Süden erreicht und sie dauerhaft gesichert hatte. Seitdem hat sich Moskau das Recht der freien Schiffahrt ins Mittelmeer nicht mehr streitig machen lassen. Aus wirtschaftlichen und militärstrategischen Gründen ist dies auch für das aus der Konkursmasse der Sowjetunion wiedererstandene Rußland von existenzieller Bedeutung.

Man muß daher kein „Putin-Versteher“ sein, um zu erkennen, daß die USA im Verein mit EU und NATO die Ukraine — ein historisch labiles Gebilde, das erst 1991 zur staatlichen Unabhängigkeit fand — als nützliches Werkzeug benutzen, um Moskau zu schwächen und das Einflußgebiet des Westens zu erweitern. Um die Tragödie des Krieges zu beenden, ist zu wünschen und zu hoffen, daß möglichst rasch eine Lösung gefunden wird, die auf eine wie auch immer geartete Neutralisierung der Ukraine hinauslaufen dürfte.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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