Anfang Mai warnte China die deutsche Marine, bei der für Juni bis August gemeinsam mit den USA, Frankreich und Spanien geplanten Indopazifik-Übung durch die Straße von Taiwan zu fahren. Diese Region dürfe unter dem Vorwand der freien Schiffahrt nicht zum Spielball von Großmächten verkommen. Die Taiwan-Frage, zitierte die „Süddeutsche Zeitung“ Pekings Botschaft in Berlin, sei eine rein innere Angelegenheit Chinas, „bei der wir uns jegliche äußere Einmischung verbitten“.
Wer glaubt, die Außenpolitik eines souveränen Staates richte sich nach den jeweiligen nationalen Interessen, kennt das seit 1990 wiedervereinigte Deutschland nicht. Zwar wurden die nach 1945 von den Siegermächten in der UN-Charta verankerten „Feindstaaten-Klauseln“ 1994 für obsolet erklärt. Doch der Passus, der sich gegen jene Länder richtet, die während des Weltkrieges Feind eines der Unterzeichnerstaaten der Charta waren – also Deutschland und Japan – , ist weiter in der Satzung der Vereinten Nationen enthalten. In der Praxis indes gelten Berlin und Tokio längst als souverän. Die deutsche Außenpolitik aber verhält sich oftmals so, als seien besagte Klauseln weiter gültig, die es erlauben, Zwangsmittel gegen die einstigen Feindstaaten zu verhängen, wenn diese erneut eine „aggressive Politik“ verfolgen.
Kernanliegen der Politiker in Berlin sollte es daher statt dessen sein, die transatlantische Vasallenrolle abzustreifen und die Interessen des eigenen Landes nach bestem Wissen und Gewissen zu befördern. Musterbeispiel für ein souveränes Agieren sind die USA. Auf globaler Ebene hat die bis heute führende Weltmacht zwei Konkurrenten: Moskau und Peking. Auf dem alten Kontinent ist es Washington gelungen, die Sowjetunion auszuschalten und Putins Rußland als Nachfolgestaat in Europa völlig zu isolieren. Daß und wie Amerika dabei maßgeblich die Eskalation des Ukraine-Konflikts befördert hat, dürfte längst Thema der Geschichtsforschung sein. Washington ist es ebenfalls gelungen, europäische Verbündete einzuspannen, um dem aufstrebenden China im Indopazifik Paroli zu bieten. Die Frage ist nur: Liegt es auch im europäischen, gar im deutschen Interesse, daß das größte Land Europas zum Paria geworden ist? Daß eigene Soldaten fernab der Heimat für US-Belange eingesetzt werden?
Der Ukraine-Krieg hat mittlerweile eine Stufe erreicht, an der das Völkerrecht bei der Frage zu Rate gezogen werden mußte, inwieweit Kiew die Nutzung westlicher Waffen für Angriffe auf militärische Ziele in Rußland gestattet werden kann. Nach einem positiven Bescheid Amerikas signalisierte auch Deutschland, neben den USA in Bezug auf Geld und Waffen größter Unterstützer der Ukraine, seine Zustimmung. Manche Politiker wie der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter halten es auch für möglich, daß westliche Länder die Luftabwehr über der Westukraine übernehmen. Während Emmanuel Macron sogar den Einsatz französischer Soldaten erwogen hat, scheint er zumindest die Zurverfügungstellung einer Atomwaffe auszuschließen. Bei der Niederhaltung Putins jedenfalls können sich die USA auf ihre europäischen Nato-Partner verlassen.
Das sieht im Fernen Osten – abgesehen von den geplanten Manövern – ganz anders aus. Sowohl Präsident Macron als auch seine mögliche Nachfolgerin Marine Le Pen haben einen Kampfeinsatz französischer Soldaten bereits ausgeschlossen. Schließlich wissen beide, daß die Taiwan-Frage, an der sich ein Krieg entzünden könnte, auf die jahrzehntelange Einmischung der USA in den chinesischen Bürgerkrieg zurückgeht. Deutschen Politikern und ihrem publizistischen Begleitorchester scheint dies bis heute fremd zu sein. Sie nennen Taiwan unverdrossen eine „demokratische Inselrepublik“, die Peking als „abtrünnige Provinz“ einstufe und obendrein den Westen ermahne, sich „aus dieser vermeintlich innerchinesischen Angelegenheit herauszuhalten“, so der Pekinger SZ-Korrespondent am 27. Mai.
Kein Wort davon, daß das bis heute noch immer als „Republik China“ firmierende Taiwan am 25. Oktober 1971 gemäß Resolution 2758 aus den Vereinten Nationen ausgeschlossen und die Volksrepublik China als einzig legitimierte Vertreterin ganz Chinas anerkannt wurde. Dieser Ein-China-Politik zufolge, der sich nahezu alle Staaten – auch Deutschland, auch die USA – angeschlossen haben, ist die Volksrepublik Rechtsnachfolgerin der Republik China und die Provinz Taiwan somit integraler Bestandteil ihres Staatsgebiets; da das Völkerrecht nur Staaten kennt und nicht Regierungen, spielt es keine Rolle, daß die Insel nie von Peking regiert wurde.
Nach tiefgreifenden Reformen führte die 1949 nach Taiwan geflüchtete einstige Bürgerkriegspartei Kuomintang (KMT) erstmals 1996 freie Wahlen ein. Insgesamt regierte sie nahezu 67 Jahre die Insel und betrieb eine Politik der Annäherung an die Volksrepublik. Erst 2016 verlor die KMT sowohl die Präsidentschaft als auch die Mehrheit im Parlament. Tsai Ing-wen wurde Präsidentin, ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) avancierte zur stärksten Partei. Vier Jahre später triumphierten beide erneut. Doch Anfang dieses Jahres wendete sich das Blatt: Bei den Wahlen am 13. Januar wurde zwar der DPP-Kandidat Lai Ching-te zu Tsais Nachfolger gewählt, erhielt aber nur noch 40 Prozent. Auf seine beiden Konkurrenten, die für einen moderaten Kurs gegenüber Peking plädieren und Unabhängigkeitsbestrebungen strikt ablehnen, entfielen 60 Prozent. Für die DPP noch fataler ist, daß sie die Mehrheit im Parlament verlor, so daß ihr Präsident ohne Zustimmung der Legislative viele Reformen nicht mehr durchsetzen kann.
Ungeachtet der neuen Machtverhältnisse schickten die USA und Japan Delegationen zu Lais Amtseinführung am 20. Mai; aus Deutschland reiste eine Parlamentarier-Gruppe aus CDU, SPD und FDP an. In seiner Antrittsrede erklärte Lai, beide Seiten der Taiwan-Straße seien „einander nicht untergeordnet“, was Peking als eine Art Unabhängigkeitserklärung interpretierte und mit zweitägigen Großmanövern beantwortete, während es gleichzeitig Sanktionen gegen drei amerikanische Rüstungskonzerne wegen Waffenlieferungen an Taipeh verhängte. Auch die Märkte reagierten. Taiwans Hauptbörsen-Index sackte während Lais Ansprache ruckartig ab. Offenbar schürte allein der Ton seiner Rede die Angst vor zunehmenden Spannungen.
Derartige Befürchtungen sind nicht grundlos. Bereits am 27. Mai kam es im und vor dem Parlament zu tumultartigen Szenen. Draußen protestierten Tausende gegen das Vorhaben der von der Kuomintang angeführten Opposition, ein Gesetz zu verabschieden, das die Kontrollmöglichkeiten der Abgeordneten gegenüber der Regierung ausweitet. Durch die Reform, so „Zeit online“, können Militär, Privatunternehmen oder Einzelpersonen aufgefordert werden, Informationen offenzulegen. Zudem werde der Präsident verpflichtet, dem Parlament regelmäßig Bericht zu erstatten und Fragen der Abgeordneten zu beantworten. Ein Politiker der DPP erklärte: „Das Parlament wird dadurch eine Plattform für das Durchsickern von Geheimnissen, weil Peking Schlüsselinformationen durch chinafreundliche Abgeordnete erlangen kann.“ Bei der Abstimmung im Parlament kam es zu Tumulten. DPP-Abgeordnete bewarfen ihre Gegner mit Müllsäcken und Papierflugzeugen. Mehrere Politiker mußten im Krankenhaus behandelt werden.
Während sich die Lage in Taipeh zu bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen zuzuspitzen droht, bleibt die Frage vorerst offen, ob die deutsche Marine es wagen wird, die Fregatte Baden-Württemberg demnächst durch die Straße von Taiwan fahren zu lassen. Außenministerin Baerbock könne sich das durchaus vorstellen, schrieb die SZ am 6. Mai. Einmal mehr würde dann Ideologie über nationales Interesse gestellt, denn noch ist China, die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, Deutschlands wichtigster Handelspartner.