Dunkel
Hell
Dunkel
Hell

Die Welt in Bildern

11. November 2021
in 2 min lesen

Archäologie im Jahre 2121: Forscher in hermetisch versiegelten Schutzanzügen erklimmen einen kilometerhohen Müllberg. Giftige Dämpfe strömen aus den sich zersetzenden Batterien ausrangierter Elektroautos. Bei jedem Schritt purzeln zerdrückte Kaffeebecher hinunter in den nebeligen Abgrund. Schließlich kommen sie zu der Stelle, die von der Drohne am Vortag mit Laser markiert worden ist. Einer der Archäologen betrachtet mit Kennermiene die Stelle, greift dann in einen ramponierten Pappkarton und hält ein handflächengroßes Plastikteil in die Höhe.

Über den Comm-Link im Helm ist seine heitere Stimme zu hören: „Schaut mal, das ist ein sogenannter Fidget Spinner!“ Fragende Gesichter beim Rest des Teams. Der Forscher reicht das radförmige Gebilde mit den drei gelochten Speichen herum. „Den Quellen zufolge ist das ein Ritualwerkzeug, seine genaue Anwendung hat sich uns bisher aber nicht erschlossen. Kinder und Jugendliche sind häufig damit abgebildet.“ Ob es wertvoll ist, will einer der Forscher wissen. „Nein, ich glaube nicht. Man findet diese Relikte ab dieser Höhe des Berges sehr häufig.“

Archäologie im Jahre 2021: Mir ist ein Bilderalbum in die Hände gefallen, fragen Sie mich bitte nicht, wie. Der Band ist aus grauem Pappkarton, und in großen Lettern steht auf der Front geschrieben: „Die Welt in Bildern“. Beim vorsichtigen Aufschlagen rieseln mir Kartonbrösel entgegen, und ein freundlich verfasster Hinweistext informiert mich darüber, dass das Album den „Freunden der guten Josetti-Cigaretten ‚Juno‘ und ‚Eljen‘“ gewidmet ist. Wir haben es hier also mit einem Zigarettenbilderalbum zu tun!

Nun aber zum spannenden Teil: Das Album enthält die Bildserien 25 bis 72, wobei eine Serie aus sechs Bildern eines thematischen Kontextes besteht. Wir finden in dem Album Serien zu exotischen Zierfischen, berühmten Rennfahrern, Völkertypen Ostafrikas und amerikanischen Wolkenkratzern. Eben die Welt in Bildern. Da die Bildserie dieses Albums bei Nummer 25 anfängt, ist davon auszugehen, dass der Zigarettenhersteller mindestens ein weiteres Album parallel zu diesem herausgegeben hat.

Aus einer der Bildserien („Aus dem Entscheidungskampf um die deutsche Fußballmeisterschaft 1927“) schließe ich, dass das Album von Ende der 1920er stammen muss. Die eingeklebten Bilder sind allesamt koloriert, und kleine Informationstexte geben Auskunft über die Motive. Sammelbilder als solche waren eine raffinierte Marketingmaßnahme, die zum Ende des 19. Jahrhunderts ersonnen wurde. Federführend war hierbei der Schokoladenhersteller Franz Stollwerck, über dessen Verkaufsautomaten ich bereits an anderer Stelle geschrieben habe.

Wie kann man sich das also Ende der 1920er vorstellen? Papa kauft sich nach der Arbeit für ein paar Pfennige eine Schachtel „Juno“ oder „Eljen“. Für uns kaum nachvollziehbar stand die Werbung noch ganz im Dienst der Umsatzsteigerung und nicht der Umerziehung. Auf der weißen Juno-Schachtel stand vielleicht der Slogan „Aus gutem Grund ist Juno rund“ oder so etwas, aber nicht „Rauchen lässt ihre Füße abfaulen, ihre Zähne ausfallen und tötet darüber hinaus das Kind, das sie gar nicht zeugen können, weil Rauchen impotent macht!!!!!“. In der Packung befand sich neben den begehrten Glimmstängeln auch eines unserer besagten Sammelbildchen, und wir können die mannigfaltigen Wege erahnen, die dieses Bildchen von der Schachtel heraus und in das Sammelbilderalbum hinein bestritt.

Auf den Schulhöfen, Straßen und Hinterhöfen, die damals noch ganz im Zeichen einer gesunden demografischen Entwicklung standen – Kinder traf man stets in Gruppen –, handelten Willy, Fritz und Heinz (die Großväter der heutigen Kevins, Jasons und Arveds) mit diesen Bildern. Man kann sich diesen Moment des kindlichen Glücks gut vorstellen: Abends am Schreibtisch, beim Schein der Taschenlampe, klebt der kleine Sammler das letzte Bild ins Album. Zufrieden blättert er die Seiten um. Nach heutigen Maßstäben wäre dieses Kind „sozial benachteiligt“. Es lebt mit seinen drei Geschwistern in einem Zimmer. Einmal die Woche wird gebadet. Seine Anziehsachen sind allesamt gebraucht. Er war mit seiner Familie noch nie im Urlaub, nur ein paarmal im Zoo. Aber unser glücklicher Sammler findet das nicht schlimm. Wolkenkratzer, Indianer, Schauspieler – er hat sie alle. Ihm gehört eine ganze Welt in Bildern.

Friedrich Fechter

Nachdem sich Fechter von den beiden Chefs die Leitung der Netzredaktion hat aufquatschen lassen, musste er mit Enttäuschung feststellen, dass die Zeiten von Olymp-Schreibmaschinen und reizenden Vorzimmerdamen vorbei sind. Eine Schreibmaschine hat er sich vom hart erarbeiteten Gehalt trotzdem gekauft. Und einen antiken Schreibtisch. Auf irgendwas muss man im Hausbüro schließlich einprügeln können, wenn die faulen Kolumnisten wieder ihre Abgabefristen versemmeln…

Mehr vom Autor

Krautzone als Print – jetzt abonnieren!

Kampf gegen Staatsmedien und linken Einheitsbrei