Vincent van Gogh soll sich im Absinthrausch das linke Ohr abgesäbelt und es einer Prostituierten zu schenken versucht haben. Er wäre beinahe verblutet. William S. Burroughs, der bekannteste Schriftsteller der Beat-Generation, erschoss seine Frau, als er im Zustand der Trunkenheit die Apfelszene aus Schillers Drama Wilhelm Tell mit einem Whisky-Glas nachzustellen trachtete. Und Jack London, der erfolgreichste Schriftsteller seiner Zeit, fiel im Suff über die Reling seiner Schaluppe und wurde von der Strömung fortgerissen. Um ein Haar wäre er ertrunken. Der Unfall ereignete sich, bevor er mit dem Schreiben anfing. Wäre er damals nicht von Fischern aus dem Wasser gezogen worden, deren Kutter just in dem Moment auftauchte, als den späteren Literaten von Weltruhm die Kraft verließ, wären die Abenteuerromane Ruf der Wildnis, Wolfsblut und Der Seewolf nie geschrieben worden.
Allerdings hätte der als John Griffith Chaney geborene Jack London, hätte er nie einen Tropfen angerührt, auch keinen Stoff für seinen 1913 erschienenen autobiografischen Roman John Barleycorn gehabt, der in Deutschland unter dem Titel König Alkohol bekannt ist. In 39 Kapiteln zeichnet London darin seine persönlichen Begegnungen mit dem Feuerwasser nach. Seinen ersten Rausch hat er mit fünf Jahren, als er seinem Vater einen Krug Bier aufs Feld bringen soll und ihn teilweise selbst leert, der zweite folgt mit sieben Jahren. Dann ist für längere Zeit Schluss mit dem Genuss von Alkoholika. Erst mit fünfzehn Jahren, als er unter die Austernräuber geht und sich später als Matrose auf einem Robbenfänger verdingt, kreuzt König Alkohol wieder seinen Weg, denn „Trinken war das Zeichen der Männlichkeit“.
Als er mit einem Harpunierer und einem Matrosen zusammensitzt, trinkt er Glas auf Glas mit ihnen, „obgleich das verdammte Zeug nicht mit einer Tafel Kaukonfekt […] verglichen werden konnte.“ Er „schauderte und würgte an jedem Schluck, verbarg jedoch mannhaft alle diese Anzeichen von Schwäche.“ Bald lernt er auch die Vorzüge der Kneipe als einer Versammlungs- und Begegnungsstätte kennen. Auf mehreren Seiten berichtet London von dem ersten Zusammentreffen mit einem berühmtberüchtigten Kapitän, dessen Spitzname „Alter Fuchs“ ist. Jener „hatte die Meere auf Schiffen aller Nationen in den wilden Tagen der Vergangenheit befahren“ und nur der Kneipe und dem Ritus des Trinkens sei es zu verdanken gewesen, dass der Grünschnabel die Bekanntschaft des alten Seebären habe machen dürfen.
Auch auf mich haben Kneipen schon früh eine geradezu magische Anziehungskraft ausgeübt. Ich lernte dort mitunter auf Klausuren und investierte mein Taschengeld – statt in CDs, Markenklamotten oder Marihuana – in ein paar Gläser Bier am Tresen, schnappte auch das ein oder andere Wort von alten Trinkern auf und erweiterte so mein Allgemeinwissen. Ganz lebhaft kann ich mich etwa noch an eine Diskussion über die Thronfolge bei den Staufern erinnern, die ein kristallweizentrinkender Stammgast mit einem anderen Zecher im Pforzheimer Irish Pub führte. Die nonverbale Kommunikation der Gäste schaute ich mir als Jugendlicher ab und begann selbst, ausladend zu gestikulieren, wenn ich andern einer Geschichte erzählte. Der Hang zur Kneipe lag nicht in der Familie. Ein einziges Mal tauchte mein Vater plötzlich mitten in der Nacht im Olas Vegas auf, hockte sich zu mir an die Bar und bestellte ein kleines Pils. Er wollte einmal selbst sehen, was seinen sechzehnjährigen Sohn an diesen Trinkhallen so magisch anzog. Wenige Monate später zog ich erst in eine WG und anschließend in eine Wohnung, die mir ein Wirt für 150 Euro im Monat überließ. Natürlich hatte ich bei diesem Wirt auch einen Deckel.
Auf der ersten Seite seines autobiografischen Romans eröffnet Jack London seiner zweiten Frau Charmian, er habe für das Frauenwahlrecht und damit für eine Verfassungsänderung des Staates Kalifornien votiert. Diese zeigt sich überrascht, war ihr Mann doch, obgleich Demokrat, immer gegen das Wahlrecht von Frauen gewesen. London, der schon einen kleinen Schwips hat, erklärt sich: „Wenn die Frauen das Wahlrecht erhalten, stimmen sie für die Prohibition.“ Und weiter: „Die Frauen, Schwestern und Mütter, und nur sie sind es, die die Nägel in den Sarg König Alkohols schlagen werden.“ Dass Jack London mit diesem scheinbar genialen Einfall nicht alleine war, beweist ein Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. Dezember 1913, in dem die Ziele der „Anti-Saloon League“, dem Flaggschiff der amerikanischen Abstinenzbewegung, wie folgt umrissen werden: „eine amerikanische Nation ohne Wirtshäuser, ohne Alkohol im Jahr 1920, und das Mittel, das dahin führen soll, das Frauenwahlrecht!“
Es geht dann aber doch ohne die Frauen, denn die Prohibition wird bereits 1919 auf den Weg gebracht, im Jahr darauf erhalten die Amerikanerinnen ihr Wahlrecht auf Bundesebene. Aber die „Anti-Saloon League“ hat ihre Rechnung nicht nur ohne den Wirt gemacht, sondern auch ohne die Mafia. Der Rest ist Geschichte.
Bis 1933 wagte man in Übersee das von Anfang an zum Scheitern verurteilte „noble Experiment“, dann war die Prohibition Geschichte. Seither dürfen sich die US-Bürger auch wieder legal zuprosten – und wer möchte es denjenigen verdenken, die es in den Zwanzigerjahren heimlich taten? Wer kennt sie nicht, die unermessliche Weisheit, die aus den Worten des Ludwigsburger Bierdurschtmannes spricht, des wohl berühmtesten deutschen Biertrinkers seit Martin Luther?
Und nein, ich meine nicht seine Feststellung, nicht einmal ein Prozent der ganzen Weltbevölkerung schaffe es, kontrolliert zu trinken, denn wenn man fünf Bier gesoffen habe, gingen auch fünfzehn rein. Ich meine seine Aussage, ein rechter Bierdurst sei etwas Herrliches. Ich bekenne freimütig, dass ich dieses Gefühl kenne, obwohl ich weder den Geschmack von Bier noch den von Alkohol mag. Was einen lockt, ist nicht der Trunk an sich, sondern die Institution Kneipe. Kneipen bieten auch einem Weltenbummler das Gefühl, zuhause zu sein, sei es in Amsterdam, Dublin oder dem südafrikanischen Durban. Die Kneipe ist Heimat an jedem Ort. Als ich einem Freund vorschlug, einen Urlaub in Bogotá, Kolumbien, zu machen und er mich fragte, was es dort zu sehen gebe, antwortete ich nur, eine Bar würden wir bestimmt finden.
Gewiss, der Alkohol kann einem zuweilen übel mitspielen, wie die drei eingangs angeführten Beispiele zeigen. Auch sollten die Langzeitfolgen regelmäßigen Alkoholmissbrauchs nicht unterschätzt werden. Dennoch sollte es jedem Menschen selbst überlassen bleiben, die Vor- und Nachteile abzuwägen und sich jederzeit frei für oder gegen einen Drink zu entscheiden. Im Gegensatz zum Raucher schadet der Trinker nur seiner eigenen Gesundheit. Einmal hatte ich gleich am Tag meiner Abmusterung abends ein Tinder-Date: Cocktails mixen. Ein ganzes Regal voll Gin. Drei Wochen lang war ich auf einem Frachter gewesen und hatte keinen Tropfen Alkohol angerührt. So kam es, wie es kommen musste: Ich wachte am nächsten Morgen im Gästezimmer auf und war peinlich berührt, als ich feststellen musste, dass ich neben das Bett gekotzt hatte. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass aus der Sache nichts wurde. Feierlich gelobte ich, ein Jahr lang nichts zu trinken.
Als ich mich ein paar Monate später in Beirut mit einer der wenigen Touristinnen in einer Cocktailbar traf und der Wirt eine Platte der britischen Kultband Dire Straits auflegte, wurde mir die ganze Widersinnigkeit meines Gelöbnisses bewusst. Weil mir König Alkohol ein Date vermasselt hatte, war ich im Begriff, ein weiteres Date zu vermasseln, unter umgekehrten Vorzeichen. Und so bestellte ich doch einen Gin-Fizz und anschließend tranken wir noch ein paar London-Mules. Im Hintergrund die Sultans of Swing. Es wurde ein sehr lustiger Abend dank König Alkohol.