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Warum ich kein Problem mit der Schreibweise „Kiew“ habe

16. Januar 2024

An meiner proukrainischen Haltung kann kein Zweifel bestehen, sonst hätte ich mich nicht freiwillig zum ukrainischen Militär gemeldet. Trotzdem werde ich auch nach der lauter werdenden Kritik an der im Deutschen etablierten Schreibweise für die ukrainische Hauptstadt festhalten. Pointiert könnte man sagen, ich sei zwar bereit für dieses Land mein Leben aufs Spiel zu setzen, aber nicht dazu mir hinsichtlich des Gebrauchs meiner Muttersprache (eigentlich die Sprache meines Vaters) Vorschriften machen zu lassen.

Um was geht es genau? Martin Jäger, der deutsche Botschafter in Kiew, hat sich unlängst dafür ausgesprochen, künftig „Kyiv“ statt wie bisher „Kiew“ zu schreiben. Erneut ins Rollen wurde die Debatte aber zuvor durch den ARD-Korrespondenten Vassili Golod gebracht, der auf X moniert hatte: „Für Ukrainerinnen und Ukrainer, die deutsche Medien konsumieren, ist diese Schreibweise jedes Mal aufs Neue höchst irritierend und verletzend.“ Ich gebe gerne zu, dass besonders jüngere Ukrainer mitunter pikiert auf die Schreibweise Kiew oder (im Englischen) Kiev reagieren. Umbenannt wurde die Stadt bereits 1995. Im Jahr 2018 startete die Ukraine in der Anglosphäre zudem eine Kampagne mit dem Motto #KyivNotKiev. In der Zwischenzeit haben fast alle großen englischsprachigen Medien ihre Schreibweise der ukrainischen Hauptstadt umgestellt.

Auch ich folge im Englischen mittlerweile meistens der neuen Konvention. So wie ich seit Jahren den bestimmten Artikel vor dem Landesnamen im Englischen weglasse, der im Deutschen noch selbstverständlich ist. Als ich 2013 zum ersten Mal in der Ukraine war, sagte man auch im Englischen noch the Ukraine. Ich kann mich an lebhafte Diskussionen mit patriotischen Ukrainerinnen erinnern, die mich schon damals darüber aufklärten, dass ein Ländername keines Artikels bedürfe. Ich konterte das immer mit Beispielen wie dem Libanon, der Schweiz, der Türkei oder dem Tschad. Das funktioniert freilich nur im Deutschen. Der Wechsel von the Ukraine zu Ukraine lag im Englischen näher als in der deutschen Sprache, in der es keine große Seltenheit ist, dass ein Ländername immer von einem Artikel begleitet wird. Trotzdem hätte sich das Weglassen des Artikels im Englischen 2013 noch seltsam angehört, während es mittlerweile umgekehrt ist. Eine Frage der Gewohnheit.

Keine Frage der Gewohnheit, sondern eine Frage der Leserlichkeit und des Artikulationsvermögens ist es hingegen, ob man im Deutschen von Kiew auf Kyjiw/Kyiv umsteigt. Es gibt in der deutschen Sprache keine Wörter, die die Buchstabenkombination „yji“ aufweisen. Eine solche Lautfolge existiert im Deutschen einfach nicht. Es hat einen Grund, weshalb die Spanier ihr Land España nennen, aber die Deutschen nicht „Espanien“. Der Engländer sagt Spain, der Norweger Spania und der Italiener Spagna. Bei der Frage, ob man im Deutschen Odessa (wie im Russischen) oder Odesa (wie im Ukrainischen) schreiben sollte, spielt auch die Aussprache eine entscheidende Rolle. Soll die Stadt im Deutschen so ausgesprochen werden wie bisher – und damit wie im Ukrainischen –, kann auf den Doppelkonsonanten schlechterdings nicht verzichtet werden. Das verlangen die Regeln der Orthographie, weil es sich beim vorhergehenden Vokal um einen kurzen Vokal handelt. Die Russen schreiben zwar Odessa, sprechen die Stadt aber eher Adjessa aus. Insofern trifft die Transkription des Russischen im Deutschen genau die ukrainische Aussprache. Für Städte, die (auch) über deutsche Namen verfügen, sollte man sich in einem deutschen Text für diese Namen entscheiden. Daran, dass Lemberg (Lviv) ukrainisch, Laibach (Ljubljana) slowenisch und Hermannstadt (Sibiu) rumänisch ist, ändert die Verwendung des deutschen Namens nicht das Geringste. Mit der Verwendung jener gutleserlichen Städtenamen sind keinerlei Gebietsansprüche verknüpft, und das ist auch gut so.

Ein vernünftiger Kompromiss für die Schreibweise der ukrainischen Hauptstadt im Deutschen wäre möglicherweise „Kiiw“. Eine solche Kombination ist dem Ottonormalverbraucher von Fremdwörtern wie dem „Initiieren“ her schon bekannt. Ästhetisch wäre ein solches Wort allerdings nicht. Zudem könnten sich die Ukrainer von einem neuen Eintrag im Brockhaus, in dem ihre Hauptstadt künftig unter dem Lemma „Kyjiw“ zu finden wäre, nichts kaufen. Ich muss dem deutschen Botschafter widersprechen: Nicht eine Debatte über Schreibweisen von Städtenamen tut not, sondern die unverzügliche Lieferung von mehr Artilleriegranaten und Marschflugkörpern wie dem Taurus. Selbst in Kiew sagen viele Menschen weiterhin Киев. Und das keinesfalls, weil sie prorussisch wären, sondern schlicht und ergreifend aufgrund der Tatsache, dass sie Russisch sprechen. Zwar habe ich mittlerweile unzählige Ukrainer aus den besetzten Gebieten sowie aus Charkiw und Odessa kennengelernt, die früher Russisch gesprochen haben und es jetzt nicht mehr tun, aber es gibt fast ebenso viele Ukrainer, die zwar Russisch sprechen, jedoch glühende ukrainische Patrioten sind. So handelte es sich etwa beim Asow-Bataillon ursprünglich um eine komplett russophone Einheit. Letztlich wird mit Debatten wie dieser dem Kreml-Narrativ, es handele sich beim Krieg in der Ukraine um einen Konflikt zwischen Russisch sprechenden und Ukrainisch sprechenden Ukrainern und nicht um einen brutalen Angriffskrieg eines Staates auf sein Nachbarland, Vorschub geleistet. Die russische Sprache und Kultur zum Problem zu erklären, wäre schon insofern absurd, als auch russische Staatsbürger auf Seiten der Ukrainer kämpfen, die zwar den Despoten Putin loswerden, ihren Tschaikowski und ihren Dostojewski aber gerne behalten würden.

Jonathan Stumpf

Jonathan, dem der Libertarismus als geborenem Ami eigentlich in die Wiege gelegt wurde, benötigte dennoch einige Umwege und einen Auslandsaufenthalt an der Universiteit Leiden, um sich diese politische Philosophie nachhaltig zu eigen zu machen. Zuvor hatte er bereits im Bachelor auf Staatskosten zwei Semester in Rumänien zugebracht. Wie jeder Geistes- oder Kulturwissenschaftler mit Masterabschluss, der etwas auf sich hält, bewegt Jonathan etwas in unserem Land. In seinem Fall sind es Container. Er hat im Sommer 2021 als Decksmann auf einem Containerschiff angeheuert.


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