Dunkel
Hell
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Landgang im Elsass

25. April 2022
in 5 min lesen

von Jonathan Stumpf

Nur noch eine halbe Tagesreise bis Basel, deshalb machen wir schon um 19 Uhr an ein paar Dalben vor einem Kieswerk im Elsass fest. Es ist Freitag, also nichts wie runter von dem Kahn und rein in die nächste Kneipe. Von meinen Kollegen, allesamt Tschechen, möchte sich leider keiner anschließen. Sie freuen sich auf Basel, aber hier wären wir ja mitten in der Pampa. Die Schweiz hingegen, die sei hervorragend. Die beiden Söhne des Schiffmanns wohnen sogar in der Schweiz. In Davos. Einer der beiden, in der Gastronomie tätig, hat seinem Vater schon ein Selfie mit den Klitschko-Brüdern geschickt, die dort am World Economic Forum teilgenommen haben. Der Vater ist stolz auf seine Söhne, auch wenn sie die Schifffahrt an den Nagel gehängt haben. Er leiht mir sein Fahrrad.

An Land zu kommen, ist gar nicht so leicht. Als ich, das Fahrrad in der Linken, einen Ausfallschritt mache, um den Abstand zwischen Schiff und Steg zu überwinden, und mit der Rechten das Geländer fasse, gähnt unter mir der Abgrund. Leicht besorgt denke ich an den Rückweg. Hätte ich einen Hut auf dem Kopf gehabt, ich hätte ihn abgenommen und kurz der vielen Schiffer gedacht, die bei der Rückkehr vom Landgang ihr Schiff nur knapp verfehlten.

Der Drahtesel ist schon ganz schön mitgenommen. Er lehnt ja auch bei Wind und Wetter am Beiboot. Es geht nur noch ein Gang, aber ich komme voran. Immer Richtung Straßburg. Leider sind gefühlt alle Mücken in der Gegenrichtung unterwegs. Was sie bloß alle in der Schweiz wollen? Vielleicht haben bei den Eidgenossen sogar die Schnaken ein besseres Leben …

Plötzlich sehe ich links der Straße, versteckt hinter ein paar Bäumen, einen Fußballplatz. Ich halte genau darauf zu, denn wo es einen Bolzplatz gibt, dort gibt es in der Regel auch eine Mannschaft, die einen Ortsnamen führt. Und wo es Ortschaften gibt, dort gibt es meistens auch Kneipen. Wo es aber Kneipen gibt, dort gibt es Geschichten. Ich muss nicht lange suchen. Rhinau, so heißt das Kaff, in dem ich gelandet bin, hat mit der Schenke A La Vieille Caserne, also „Zur Alten Kaserne“, zwar nur eine Kneipe zu bieten, aber eine mit Charakter. Bevor ich meinen Drahtesel parke und eintrete, klopfe ich noch einmal meine Harrington ab, denn zwischenzeitlich habe ich ausgesehen wie eine Fliegenfalle.

Eine Handvoll Gäste hocken am Tresen. Ein kleiner Junge und ein Mädchen, vermutlich Geschwister, spielen Tischkicker. Eine Zapfsäule, drei Zapfhähne: Auch hier ist der Sprit teurer geworden. Ein volles Glas kostet fünf Euro, ein halbes 2,70 Euro. Mein erstes kleines Bier ist maskulin. Ein grober Schnitzer, den mir die französische Wirtin durchgehen lässt, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie kommt aus der Gegend um Lille, aber ihre Familie stammt von der Küste. Vom Pas-de-Calais. Die Kommunikation mit der Wirtin und den wenigen Gästen funktioniert trotz meines marginalen Wortschatzes und meiner noch marginaleren Grammatik zu unser aller Zufriedenheit. Nur auf meine Frage: „Avez-vous le Wi-Fi ici?“ weiß zunächst niemand eine Antwort. Erst als ich mein Handy in die Höhe halte und hinzufüge: „Pour l’internet“, fällt der Groschen. Mein Fehler war es gewesen, die englische Abkürzung Wi-Fi auch englisch ausgesprochen zu haben und nicht „wie Vieh“.

Im Fernsehen werden die Präsidentschaftskandidaten Macron und LePen gezeigt. Ich frage in die Runde, wer die Wahl am Sonntag ihrer Ansicht nach gewinnen werde. Ein Mann wiegt den Kopf und deutet mit einer Geste an, es stehe fifty-fifty zwischen dem Titelverteidiger und der Herausforderin. Hier werden sie alle für LePen stimmen. Das geben sie unumwunden zu. Macron sei nur gut für die Reichen: „Ce n’est bon que pour les riches“, sagen sie. Er wolle das Rentenalter auf 70 Jahre anheben. LePen sei besser für die Franzosen. Ich nicke zustimmend. Und blicke in freudestrahlende Gesichter. Die Nachrichten laufen noch immer. Es geht um mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Söldnertruppe Wagner in Mali.

Noch ein paar kleine Bier, dann betritt ein Mann das Lokal, dem ich sofort ansehe, dass er ein Spaßvogel ist. Er stellt sich an den Tresen, bestellt, reißt einen Witz. Jedenfalls lachen die anderen Gäste und er mit ihnen. Als ich das nächste Bier zapfen lasse, verwickelt er mich in ein Gespräch. Auf Deutsch. Der Mann ist Elsässer von echtem Schrot und Korn. Er heißt Michael. Wir quatschen über alle möglichen Dinge, aber vor allem über das Allemannische, seine Mundart. Ich drücke Bedauern darüber aus, dass das Elsässische über kurz oder lang verschwinden werde, da die Jungen es nicht mehr sprächen. Dass das Allemannische zumindest in Rhinau noch quicklebendig ist, wird sich nur wenig später zeigen.

Wir laden uns gegenseitig zu einem Getränk ein. Eine seltsame Konvention, da es unterm Strich darauf hinausläuft, dass niemand eingeladen wird. Plötztlich betritt noch ein alter Elsässer das Lokal. Wie sich herausstellt, ist es der beste Freund meines Gesprächspartners. Weil er dessen Wagen vor der Kneipe habe stehen sehen, habe er ebenfalls dort gehalten. Schließlich betritt noch ein dritter Elsässer die Wirtschaft und nimmt an dem Abschnitt des Tresens Platz, den kurz zuvor die letzten Franzosen geräumt haben. Jetzt wogt eine laute und angeregte Unterhaltung auf Deutsch. Der Letzte, der hereinkam, ist in früheren Zeiten Warschauer gewesen.

Die Warschauer haben ihre Brötchen auf dem engen, gefährlichen Rheinabschnitt zwischen Bingen und der Loreley verdient. Wie eine menschliche Ampel regelten sie mit Signalen den Verkehr auf dem reißenden Fluss. Bis ins Jahr 1969 war das so. Dann verschwand das Berufsbild des Warschauers. Es wurde durch den technischen Fortschritt obsolet.

Die drei Männer sind zwischen 60 und 75 Jahre alt und auch die Wirtin hat schon mindestens ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Ich frage sie, was denn mit meiner Generation los sei. Es sei doch schließlich Freitag. „Où sont les jeunes filles?“ rufe ich lachend und hebe die Achseln. Michael vermutet die jungen Damen am Campingplatz.

Gerade möchte ich ein letztes Mal austreten und mich dann wieder auf mein Rad schwingen, da höre ich Michael erneut bestellen: „Une autre bière pour l’Allemand.“ Als ich vom Toilettengang zurückkehre, steht schon ein frisch gezapftes Blondes an meinem Platz. Auch das muss vergolten werden. Den alten Warschauer frage ich, wie die Kneipe eigentlich heiße. „A La Caserne“, sagt er. Ich verstehe ihn akustisch nicht, frage nochmals nach. „Wie in dem Lied“, lacht er und fängt plötzlich an, „Lili Marleen“ zu singen. Wir stimmen alle mit ein: „Bei der Kaserne vor dem großen Tor, steht eine Laterne“ usw.

Als drei junge Männer hereinkommen, von denen zwei offensichtlich aus dem Maghreb stammen, raune ich Michael zu: „Das sind aber mindestens Südfranzosen. Vielleicht aus dem Languedoc.“ Wir müssen beide herzlich lachen, was die jungen Männer für einen Augenblick irritiert, aber wir prosten ihnen freundlich zu und es entsteht keine Feindseligkeit.

Um halb zwölf empfehle ich mich schließlich und radle los. Vor der Kirche des Ortes treffe ich dann doch noch auf die Dorfjugend. Ein 13-jähriger, dicklicher Türke scheint der Wortführer der etwa 20-köpfigen Gruppe zu sein. Jedenfalls tritt er mit mir in Dialog und die anderen lauschen. Man möchte wissen, wie alt ich bin, wo ich herkomme, ob ich Kinder habe, was ich hier mache und anderes harmloses Zeug. Zuletzt die Gretchenfrage: „Was halten Sie von Macron und LePen?“ Da ich mich für die Frau ausspreche, fragt der Teenager: „Êtes-vous un raciste?“ Meine Entgegnung: „Je suis réaliste.“ Die Jugendlichen finden meine Antwort lustig und so bekomme ich sogar noch bis zum Ortsausgang eine Eskorte aus Motor- und E-Rollern.

Dann bin ich allein auf der stockfinsteren Landstraße. Ohne Licht. Immer Richtung Basel. Wenigstens keine Mücken. Die sind wohl schon alle über die Grenze. Oder sie sehen mich einfach nicht …

Jonathan Stumpf

Jonathan, dem der Libertarismus als geborenem Ami eigentlich in die Wiege gelegt wurde, benötigte dennoch einige Umwege und einen Auslandsaufenthalt an der Universiteit Leiden, um sich diese politische Philosophie nachhaltig zu eigen zu machen. Zuvor hatte er bereits im Bachelor auf Staatskosten zwei Semester in Rumänien zugebracht. Wie jeder Geistes- oder Kulturwissenschaftler mit Masterabschluss, der etwas auf sich hält, bewegt Jonathan etwas in unserem Land. In seinem Fall sind es Container. Er hat im Sommer 2021 als Decksmann auf einem Containerschiff angeheuert.

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