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Nietzsche, die Schlichten und ihr neuer Gott

14. Juni 2022
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Nietzsche verwendet das Wort „Ressentiment“ 71-mal in seinem Lebenswerk. Der Duden definiert den Begriff als eine „oft unbewusste Abneigung“, die „auf Vorurteilen, einem Gefühl der Unterlegenheit, Neid o. Ä. beruht“. Das Phänomen dieses Gefühls wird bereits in Platons Dialog „Gorgias“ vom „edlen“ Athener Kallikles aufgegriffen und hat seitdem kaum an Aktualität eingebüßt.

In seinem Buch „Zur Genealogie der Moral“ beschreibt Nietzsche, wie in einem Urzustand der Menschheit schwache, (physiologisch) kranke oder einfach weniger mächtige Menschen von edlen, gesunden und mächtigen Menschen beherrscht werden. In diesem Stadium bedienen sich die Herrscher der selbstgesetzten Herrenmoral und nutzen ihre Macht dazu, selbige auf weniger Mächtige auszuüben. Sie nennen sich die Guten und meinen damit, sie seien die Edlen, Vornehmen und Hochgesinnten. All jene, auf die diese Bezeichnung nicht zutrifft, werden folglich die „Schlichten“ (Schlechten) genannt.

Die (schlichten) Schwachen haben keine Möglichkeit, sich der Herrschaft der Starken zu widersetzen. In einigen aber wächst mit der Zeit die Lust nach Rache an der als unfair empfundenen Machtausübung. Deshalb erfinden die Wortführer (die Prediger) des Ressentiments die Sklavenmoral, um alle Menschen gleich zu machen, wobei sie natürlich nur die Mächtigen ebenfalls zu Schlichten machen wollen. Die Predigt lautet: „Wir Schwachen sind der Maßstab – wir tun nichts, wozu wir nicht stark genug sind, und das ist gut.“

Mit der Erzählung eines „Jenseits“ werden die Menschen im Diesseits schwach gehalten und hörig gemacht. Das Jenseits, oder in Nietzsches Worten: die „Hinterwelten“ existieren nämlich in Wirklichkeit gar nicht – wer sie aber leugnet, wird aus der Gesellschaft ausgestoßen. Und schon werden die „Schlechten“ zu den „Guten“ und die ehemals „Guten“ zu den „Bösen“.

Der Neid, das Gefühl der Unterlegenheit und letztendlich die Rachegelüste der Schwachen haben damit dafür gesorgt, dass eine Umwertung stattfindet, die im Laufe der Zeit alle gesellschaftlichen Ordnungen erschüttert. Sobald dieser Prozess vollzogen ist, bleiben diese Werte lange an der Macht, und es dauert viele Jahrhunderte, bis stärkere Werte die Sklavenmoral ablösen können – bis das möglich ist, müssen die inzwischen alten Werte jedoch wieder zerbrochen, die neuen Götzen zerstört und der Nihilismus herbeigeführt werden. Solange dann kein neues Ideal er-(oder ge-)funden wird, kann das Ressentiment-Denken nicht abgeschüttelt werden. Gott in der Hinterwelt (dem Jenseits) ist für Nietzsche übrigens die Letztbegründung, auf der die gesamte Herrschaft der Sklavenmoral fußt.

Es ist nun einige Zeit vergangen, seit Nietzsche Gott für tot erklärt hat. Und in der Tat, es hat sich in Europa einiges verändert: In den meisten bewohnten Landstrichen (unter denen, die schon länger hier leben) ist Gott de facto aus dem Alltag verschwunden. Nach zwei Weltkriegen, deren Schauplatz vor allem Europa war, einer zunehmenden Technologisierung und Atomisierung der Gesellschaft und der ehemals ständigen Gefahr eines Atomkrieges ist der Nihilismus dennoch nicht eingekehrt. Trotz der Niedergangserscheinungen, die sich letztendlich auch in den sinkenden Geburtenraten manifestieren, sind starke Werte jedoch nicht in Sicht, und der Zarathustra in unserer diesseitigen Welt lässt noch auf sich warten. Stattdessen ist Gegenteiliges eingekehrt: Die alte Sklavenmoral scheint sich mithilfe des Ressentiments weiter zu entwickeln, wenn man nicht von einem kompletten Wandel sprechen kann. Alle (laut Nietzsche) „schwachen“ Werte, die man bisher kannte, werden erneut umgewertet.

Die „Mächtigen“ muss man dafür allerdings erst erfinden, und wer bietet sich diesmal besser dafür an als eben jene, die schon länger hier leben? Immerhin sind sie ja die Ursache für die Strukturen, die sie sich über Jahrhunderte geschaffen haben. Konstruiert werden auf der einen Seite also wieder „von Natur aus“ Mächtige (sich selbst so zu bezeichnen, würde jedoch den Ausschluss aus jedem gesellschaftlichen Kontext bedeuten) und auf der anderen Seite erneut die von (ihrer) Natur aus Unterdrückten (die sich zwar selbst als solche beschreiben, das aber nicht nativistisch meinen). Die in dieser neuen Form von Sklavenmoral „Bösen“ sind natürlich die heterosexuellen weißen Cis-Männer, und die Rachegelüste kommen von allen, auf die das nicht zutrifft – seien es BIPOC oder LGBTQIA+ (die Rolle der weißen Frau wird momentan noch ausdiskutiert – sie ist zwar kein Mann, aber eben trotzdem weiß). Man ist übrigens kein Böser mehr, wenn man sich zum jeweils anderen Geschlecht umwertet – beim Weißsein ist dieser Vorgang allerdings nicht möglich. Dem Weißsein an sich (natürlich nur als sozial konstruiertes „Weißsein“) wird sowieso der Kampf angesagt.

Die neuen Prediger nennen sich „soziale Aktivisten“ und sind auf allen öffentlichen Kanälen anzutreffen. Wie die alten Wortführer predigen auch sie die Gleichheit, die nur erreicht wird, wenn den neuen Mächtigen (den Weiß-gelesenen) allerlei Hindernisse in den Weg gelegt werden – denn nur so erzeugt das Ressentiment seine Gleichheit. Eine „Abgabe von Privilegien“ nennt sich das dann, von denen der weiße Obdachlose von Natur aus selbstverständlich mehr hat als die schwarze Millionärin, die ihren Vorstandsposten dank einer Quote im Unternehmen bekam.

Die neuen Hinterwelten der nun als „die Guten“ Geframten sind die sogenannten „Safe Spaces“, und es wird stetig daran gearbeitet, jedes soziale Medium und jeden öffentlichen Raum zu solch einem umzugestalten. Trotz all der offenkundigen Abneigung, dem Neid und dem mal mehr und mal weniger ausgelebten Hass nennt sich der neue Gott „die Liebe“.

Der Ketzer, der die Liebe anders interpretiert als die Guten, wird aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen und des wahren Hasses verdächtigt – wahrer Hass kann nur das Gegenteil ihres Gottes sein. Diesen Gott beten sie zwar an und schreiben ihn auf alle Fahnen – sehen lässt er sich bei seinen Gläubigen allerdings genauso wenig, wie es der alte Gott zu tun pflegte.

Diese Umwertung aller Werte, die nur fragmentarisch nachgezeichnet wurde, hat natürlich noch etliche andere Auswüchse. Nietzsche könnte man fragen, warum auf aus seinen Augen schwache Werte noch schwächere Werte folgten. Vielleicht waren wir dem Nihilismus einfach noch nicht nahe genug, vielleicht ist es der logische Schritt hin zum nun folgenden Nihilismus Europas, und die starken Werte folgen danach.

Nietzsche schreibt auch, die Sklavenmoral habe zu einer Vergeistigung und damit zu einer Vertiefung des Subjekts beigetragen – durch sie erst wurde der Mensch autonom und lernte das abstrakte Denken. Vielleicht ist die heutige Zeit der Abgrund, in den wir blicken müssen, um gestärkt aus der Sache hervorzugehen. Vielleicht dient das Ressentiment der Schlichten letztendlich der Heraufkunft stärkerer Werte – vielleicht ist Optimismus aber auch Feigheit. Alles in allem kann man sich, hat man die beschriebenen Entwicklungen durchschaut, nur noch als „unzeitgemäßen Betrachter“ empfinden. Der nächste Schritt wäre dann wohl im Sinne Ernst Jüngers der Waldgang.

Ganz zu Beginn einer neuen Wandlung muss allerdings der neue Gott bei seinem wahren Namen genannt werden: Er lautet nicht etwa „die Liebe“. Nietzsche kannte ihn allzu gut, weshalb er ihn auch 71-mal in seinen Werken äußerte.

PhrasenDrescher

Der Phrasendrescher - wie könnte es anders sein - promoviert derzeit interdisziplinär in der Philosophie und der Politikwissenschaft. Als glühender Verehrer von Friedrich Nietzsche weiß er, dass man auch Untergänge akzeptieren muss und arbeitet bereits an der Heraufkunft neuer, stärkerer Werte.

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