Im vorletzten Artikel haben wir zunächst den Markt als Raum umrissen, innerhalb dessen die Marktakteure ihre Waren und Dienstleistungen und ihr Wissen austauschen. Darunter lassen sich im weitesten Sinne auch solche Transaktionen fassen, die wir aufgrund ihres zwischenmenschlichen Charakters nicht mit der gängigen Vorstellung des Marktes, also mit so etwas wie schnöden Preisschildern oder Rückgaberechten, in Verbindung setzen würden. Wir haben den Betrachtungsrahmen damit möglichst weit gesteckt, nicht etwa, um uns fremde Kulturen oder Zivilisationen zu „Marktgesellschaften“ zurechtzubiegen, sondern um das liberale beziehungsweise libertäre Verständnis von Wettbewerb und Staat zu veranschaulichen. Im letzten Artikel folgte deswegen die Einordnung des Staates als Monopolist der inneren und äußeren Sicherheit. Und wie uns anhand dieses kleinen Exkurses vor Augen geführt wurde, stellen sich Monopolisten keinem Wettbewerb und haben damit auch keinen Anreiz, ihre angebotene Leistung zu verbessern. Das ändert nichts daran, dass der Staat nun mal Tatsachen schafft – aber es rückt seine Legitimation in ein interessantes Licht.
Wir haben also festgestellt: Der Markt ist im weitesten Sinne immer ein Ort oder eine Gelegenheit zum Austausch. Jeder Austausch setzt zunächst eine Bewertung der zu handelnden Ware, Dienstleistung oder des Wissens voraus. Die Bewertung kristallisiert sich zum Preis. Der Preis ist nichts anderes als eine Information. Was genau teilt die Information den Marktakteuren eigentlich mit? Den Wert? Wenn ja, welchen Wert genau? Oder ist der Preis nichts anderes als eine Information über die Knappheit des Gutes?
Hier kommen wir zu einer der großen Fragen in der Ökonomie, zum roten Faden, der sich von Aristoteles bis in die heutige Zeit zieht. Das Problem dabei ist, dass die Ökonomie eben keine reine Naturwissenschaft ist, sondern als Zwitterdisziplin auch in die Soziologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft ausstrahlt. Das fordert zur normativen Auseinandersetzung geradezu heraus – und von da aus ist es bis zur ideologischen Aufladung der Frage nicht weit. Die marxistische Werttheorie ist ein direktes Resultat dieser Auseinandersetzung, aber im weitesten Sinne steht sie damit in der Tradition von Aristoteles und der Scholastik.
Der Preis für sich genommen steht bereits bei den alten Griechen unter Generalverdacht. In seiner „Nikomachischen Ethik“ unterscheidet Aristoteles zwischen dem Gebrauchswert, also der Nützlichkeit eines Gutes, und dem Tauschwert, also dem rein monetären Wert. Daraus folgt seine Forderung, dass sich Produzenten am Gebrauchswert orientieren und nützliche Güter herstellen, anstatt unnütze, deren Tauschwert hingegen höher sei.
In dieser Tradition steht auch die mittelalterliche Scholastik, deren Vorstellung eines gerechten Preises durch Thomas von Aquin präzisiert wird. Der iustum pretium, der gerechte Preis, deckt den Aufwand des Anbieters – der in der Regel mit dem Produzenten gleichgesetzt wird, was ein Ressentiment gegen den reinen Händler erkennen lässt – und gesteht ihm die Bestreitung seines Lebensunterhalts zu. Dadurch können sich Preise für ein und dasselbe Gut an unterschiedlichen Orten durchaus unterscheiden. Ist der Brotpreis in Köln höher als in Nürnberg, dann unterscheiden sich auch die Ausgaben des Kölner und des Nürnberger Handwerkers.
Die Definition des „gerechten Preises“ beschäftigte über Jahrhunderte die Denker. Man sollte nicht der Annahme verfallen, dass sich dabei alle Theoretiker den strengen Dogmen einer objektiven Gerechtigkeit gebeugt hätten. Der „letzte Scholastiker“ etwa, Gabriel Biel, der 1477 die Universität Tübingen mitbegründete und dort als Professor der Philosophie lehrte, gesteht dem Händler seinen Gewinn zu, da dieser ein erhebliches Risiko auf sich nehme. Der Preis ist nach Biel auch eine Funktion der Knappheit des entsprechenden Gutes. Das ist auch nach unseren Maßstäben eine überaus moderne Perspektive, wo doch heute die Forderung nach der höheren Besteuerung – vor allem der Kapitaleinkünfte – nicht leiser wird.
Der „Wind of Change“ wehte ebenfalls durch die Schule von Salamanca, deren Gelehrte auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit die scholastischen Konventionen abstreiften und ökonomische Erkenntnisse aus der Beobachtung zeitgenössischer Zustände gewannen.
Adam Smith legt mit seiner Unterscheidung zwischen dem natürlichen Preis, der dem Produktionspreis entspreche, und dem Marktpreis, der sich am Markt durch Angebot und Nachfrage bilde, die Grundlage für die deskriptive, entideologisierte Auseinandersetzung mit dem Preis. Er gesteht dem Marktpreis eine ganz eigene Dynamik zu, sieht aber langfristig eine Annäherung zwischen dem Markt- und dem natürlichen Preis. Und dennoch: Das Eingeständnis, dass der Marktpreis eben auch unabhängig vom Produktionspreis gebildet werden kann, ist ein wegweisender Schritt für die Ökonomie.
Aber das muss für heute reichen. Mehr zu dem Thema in meiner kommenden Kolumne.