Mit uns im Zug nach Przemyśl sitzt auch eine junge Frau aus der Ukraine. Einen Monat hat sie als Kriegsflüchtling in Bratislava, Prag und Breslau zugebracht. Jetzt möchte sie zurück nach Odessa, auch wenn dort von Zeit zu Zeit noch russische Raketen einschlagen. Sie fühle sich nur an einem Ort zuhause, und das sei nun einmal Odessa. Ihre Eltern wollten die Ukraine erst gar nicht verlassen. Sie leben in Mykolajiw. Als ich sie frage, ob man mit dem Zug nach Mykolajiw durchkomme, schüttelt sie den Kopf. Auf das Kopfschütteln folgt die pantomimische Darstellung einer Explosion. Sie deutet mit einigen Stichworten an, dass die Gleise ihres Wissens etwas abbekommen hätten. Dabei lacht sie. Der Krieg stumpft ab.
Im Bistro des polnischen Euro City treffen wir neben einer trinkfesten Gruppe deutscher Geografiestudenten, die in der Hohen Tatra Steine sammeln wollen, einen Mann, der unschwer als Amerikaner zu erkennen ist. Wir freunden uns an. Mike (Name geändert) reist im Auftrag einer Rüstungsfirma in die Ukraine und soll am nächsten Tag Selenskyj treffen. „Long story short“, sagt er: „Wir haben ihnen vor dem Krieg Waffen geliefert und wir liefern ihnen noch immer Waffen.“ Er ist sich sicher: Wenn die USA nicht gleich bei Kriegsausbruch ihre Waffen- und Munitionslieferungen angekurbelt hätten, gäbe es schon keine Ukraine mehr. Die Munition in den Depots hätte nur für wenige Tage vorgehalten. Sagt er. Und der Mann muss es wissen.
In Przemyśl kehren wir gemeinsam in einem Gasthaus ein. Mit von der Partie ist auch Riccardo, ein hünenhafter Florentiner. Er ist der Manager der italienischen Modemarke Gucci in der Ukraine und war zwei Monate zuvor aus der Hauptstadt geflohen. Nun möchte er zurück. Das Geschäft in Kiew laufe trotz Krieg nicht schlecht. Wieder am Bahnhof, wird uns bewusst, dass Riccardo nicht der Einzige ist, der zurück in die Ukraine möchte. Vor uns stehen ungefähr zweitausend Frauen und Kinder, die dasselbe Ziel haben. Innerlich stelle ich mich schon auf eine lange Nacht an der Grenze ein, aber nach zwei Stunden sitzt tatsächlich jeder, der einen gültigen Fahrschein vorweisen kann, in dem ellenlangen Anschlusszug nach Kiew.
Die ukrainische Hauptstadt wirkt auf den ersten Blick nicht anders, als ich sie kenne, wären da nicht die Sandsäcke, die Monumente vor Granatsplittern schützen sollen. Und die Panzersperren. Mario, mein Begleiter, und ich nehmen im Dream Hostel Quartier. Es gibt außer uns kaum Gäste, und im Treppenhaus hängt ein Zettel, auf dem in mehreren Sprachen verkündet wird, man habe bei Luftalarm die Küche im Keller des Hauses aufzusuchen. Als dann mitten in der Nacht tatsächlich Luftalarm ausgelöst wird, räsoniert Mario darüber, ob wir in den Keller gehen sollten. Ich murmele im Halbschlaf etwas von verschwindend geringer Wahrscheinlichkeit, dass genau das Dach getroffen werde, unter dem sich unser Zimmer befinde. Mario ist derselben Ansicht, also schlafen wir weiter.
In Kiew besichtigen wir eine Fabrik für militärische Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenstände, führen ein längeres Interview mit dem Kommandeur der Georgischen Legion und werden von Riccardo in einem italienischen Restaurant zum Abendessen eingeladen. Im Anschluss bittet uns der elegante Lebemann noch auf eine Tasse Tee zu sich nachhause. Er lebt in einer Gated Community für Reiche und Schöne, aber der nächtliche Luftalarm hat ihm ein wenig zugesetzt. Das erste Bild, das mir in seiner stilvoll eingerichteten Wohnung auffällt, zeigt Marlon Brando als Don Vito Corleone, den Paten. Ich bin begeistert.
Am nächsten Morgen geht es mit dem Zug nach Charkiw. Von dort aus wollen wir als Kriegsberichterstatter zu einem Bataillon im Frontabschnitt der 93. Brigade stoßen. Dafür müssen wir aber zunächst nach Lozova. Wir fragen zwei junge Männer, die ein wenig Englisch sprechen, ob es einen Bus nach Lozova gebe. Sie sind äußerst hilfsbereit, laufen mit uns zu einem Busbahnhof in der Nähe, dann wieder zurück zum Hauptbahnhof und schließlich zu einer weiteren Station. Hier kaufen sie zwei Fahrscheine für uns. Sie weigern sich beharrlich, unser Geld dafür zu nehmen. „Sláva Ukrayíni!“, rufen sie, als sie uns zum Abschied kräftig die Hände schütteln. Wir sind überwältigt.
Etwa anderthalb Stunden müssen wir warten, bevor unsere Bahn abfährt. Die einzige an diesem Tag. Wir hatten Glück. Auf den Stufen des Bahnhofs nimmt neben uns ein Mann in Uniform und umgehängter AK 74 Platz. Sergeij, 48, war vor dem Krieg Metzger. Er macht mir mittels Zeichensprache und einem unverkennbaren Grunzen verständlich, dass er vor der russischen Invasion Schweine geschlachtet habe. Darauf zieht er sein Kampfmesser, fuchtelt ein wenig damit herum und sagt lachend, mittlerweile müsse er eben Russen schlachten. Ich begreife schon, bevor mir ein 13-jähriges Mädchen seine Worte ins Englische übersetzt. Auch das Mädchen ist amüsiert. Wieder wird mir bewusst, wie sehr der Krieg abstumpft. Sergeij gehört der 92. Brigade an. Er lässt es sich nicht nehmen, uns zum richtigen Gleis zu begleiten.
Mit der Holzklasse bummeln wir nach Lozova. Eine trostlose Stadt, größtenteils evakuiert. Sie war wiederholt Ziel russischer Raketenangriffe. Nach einigen Stunden des Wartens werden wir von einem jungen Leutnant abgeholt. Als wir die Baracken des 49. Infanteriebataillons betreten, sitzen gerade ein paar Männer beim Reinigen der Waffen. Kurz hintereinander lösen sich zwei Schüsse. Der Leutnant tobt. Die Männer des 49. Infanteriebataillons, das erst kurz vor unserem Besuch in die reguläre Armee eingegliedert wurde, sind zumeist keine Berufssoldaten. Es sind in erster Linie Handwerker, Bauern und Arbeiter, aber auch Geschäftsleute, Anwälte und IT-Spezialisten, kurz: ein Querschnitt der ukrainischen Gesellschaft. Preußische Disziplin ist nicht ihr Aushängeschild, aber Krieg führen, das können sie. Davon können Mario und ich uns tags darauf bei einem Frontbesuch in Barwenkowo und Virnopillya überzeugen. Taktisch ist man den fünf zu eins überlegenen Russen weit voraus.
Zur Unterstützung der Ukrainer sind neben einer Amerikanerin zwei britische Sanitäter vor Ort: „Conor“ und „Moth“. Sie gehören selbst keiner Einheit an und bekommen für ihren lebensgefährlichen Einsatz unter dem Trommelfeuer der russischen Artillerie keinen Cent. Als ich zwei Tage später wieder im Bus Richtung Polen sitze, vibriert mein Handy. Eine Nachricht von Moth. Die Russen hätten am Vortag angegriffen, seien aber zurückgeschlagen worden. Er fragt mich, ob ich mich noch an das Haus erinnern könne, in dem wir uns die meiste Zeit aufgehalten hätten. Es sei vollkommen zerstört worden. Auch ihr Einsatzfahrzeug sei nicht mehr zu gebrauchen: “A tank shot behind us on our way to a casualty and shrapped our rear tires.” Kurz darauf lese ich die Schlagzeile, Präsident Selenskyj habe verlauten lassen, es gebe keine wesentlichen Veränderungen des Frontverlaufs im Donbass. Alle Durchbruchsversuche der Russen seien gescheitert. Im Osten nichts Neues.