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Soziologie des Alltags

11. August 2022
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In seinem Buch Abenteurer des Schienenstranges eröffnet Jack London das Kapitel „Wie ich Landstreicher wurde“ mit einem Bekenntnis: Er sei nicht, wie es in Biografien immer wieder angedeutet werde, Vagabund geworden, um Soziologie zu studieren. Die Soziologie sei vielmehr eine Konsequenz seiner Entscheidung gewesen, Landstreicher zu werden, so wie man nass werde, wenn man ins Wasser falle. Ebenso habe ich mich nicht entschlossen, ständig Arbeit und Wohnsitz zu wechseln, viel zu reisen, nichts zu sparen, mal in gammligen Absteigen, mal in teuren Hotels zu übernachten, und die Schiene in der Regel der Straße vorzuziehen, um Soziologie zu studieren. Ich bin einfach so. Aber der Umstand, dass ich so einen lockereren Lebenswandel habe, erlaubt mir Einblicke in sehr unterschiedliche Milieus. Im Folgenden möchte ich ein paar dieser Einblicke mit den Lesern der Krautzone teilen.

Cancún. Ein paar Jahre ist es her: Als ich kurz vor dem Hostel bemerke, dass sich mir von hinten zügig jemand nähert, drehe ich mich auf der Stelle um, was den „Verfolger“ dazu veranlasst, abrupt stehenzubleiben. Er ruft mir mit unverkennbar südafrikanischem Akzent auf Englisch zu, er wolle gerne noch einen Drink mit mir zu sich nehmen, falls ich nichts dagegen hätte. Es ist zwar schon reichlich spät und ich bin fest davon überzeugt, dass mich der bis unters Kinn tätowierte Hüne zum Vergnügen von hinten umgenietet hätte, hätte ich mich nicht rechtzeitig herumgedreht, aber mich interessiert seine Geschichte und so willige ich ein. Es stellt sich heraus, dass er in Südafrika studiert hat und eigentlich Ingenieur ist. Allerdings, so bekennt er, sei es seine Lieblingsbeschäftigung, sich mit Leuten zu prügeln, weshalb er nicht in Südafrika habe bleiben können. Er wolle am nächsten Tag weiter Richtung Panama, wo er eine Stelle als Decksmann angenommen habe. Immer wieder fragt er Kellner und Kellnerinnen des Lokals, das wir so spät noch geöffnet finden, ob sie etwas gegen seinen guten Freund hätten, womit er mich meint. Dabei schaut er immer möglichst grimmig, steckt ihnen dann aber in der Regel große Trinkgelder zu, wenn sie verängstigt den Kopf schütteln und ich ihm beschwichtigend auf die Schultern klopfe. Man hört jedenfalls nichts klimpern. Auch mir möchte er am Ende noch ein Geschenk machen: eine Nase Kokain, vielleicht auch zwei. Ich lehne dankend ab und nehme Abschied von dem wunderlichen Zugvogel, drehe mich auf dem Nachhauseweg aber hin und wieder um.

Aber man muss nicht nach Mexiko reisen, um jener Klientel zu begegnen. Manchmal reicht dafür schon ein Job im Schwimmbad. Neulich arbeite ich mit Ali (Name geändert). Er hat verdammt viel auf dem Kerbholz und schon so ziemlich jede verbotene Substanz konsumiert, aber den Ramadan hält er ein und Schweinefleisch kommt ihm auch nicht auf den Teller. Als ich ihn frage, ob er tatsächlich an die Existenz Allahs glaube, schaut er mich mit großen Augen an: „Selbstverständlich! Das ist ja klar, weil: Woher kommt sonst der Mensch? Vom Affen oder was?“ Dabei lacht er höhnisch, als habe er soeben den unumstößlichen Beweis für die Existenz seines Gottes geliefert. Dass der Mensch auch von einem anderen Gott oder mehreren Göttern in Gemeinschaft geschaffen worden sein könnte, hält er der Erwägung nicht für wert. Und woher kämen überhaupt der Affe und Allah? Das erinnert mich an ein Gespräch mit Private Brown. Wir waren zusammen beim 2. US-Kavallerieregiment im oberpfälzischen Vilseck. Brown ist auf einem Trailerpark im Bible-Belt aufgewachsen. Als jenes Gottesthema aufkam und ich sagte, ich glaubte nicht an Gott, fragte er: „What do you mean? You don’t believe in God?“ Als ich explizierte, ich glaubte nicht an die Existenz Gottes, wurde er ungehalten: „What do you mean? You don’t think God exists? Are you fucking stupid?!“ Wer in den USA mit einem Wohnwagen vorliebnehmen müsste, erhält in Deutschland in aller Regel eine Sozialwohnung. Ein Beispiel sind die Mannheimer Benz-Baracken auf dem Waldhof, bekannt durch die RTL-II-Sendung „Hartz und herzlich“. Einem Mannheimer Arbeitskollegen vom Waldhof stelle ich unlängst die gleiche Frage wie Ali. Seine Antwort ist ebenfalls bestechend simpel: „Isch glaab do net droh. Es heest jo, de Jesus is iwwas Wasser geloffe.“ Er lehnt sich zurück, verschränkt die Arme, und macht das klügste Gesicht, zu dem er im Stande ist. Dann fragt er triumphierend: „Bisch du schunn emol iwwas Wasser geloffe?“ Als wäre Jesu Spaziergang auf dem See Genezareth die unwahrscheinlichste Anekdote, die die Bibel kennt …

Und auch die Schwimmbadgäste sind für den Hobbysoziologen häufig eine Bereicherung: Da stehe ich am Beckenrand und traue meinen Augen und Ohren kaum: „Hol mir Pommes, Mama!“, ruft ein dicker Junge, der sich behäbig durchs Wasser schiebt. Als die angesprochene Frau nicht gleich auf das Kommando reagiert, schallt es noch ein paar Mal im Kasernenhofton zu ihr herüber. Da sie immer noch nicht reagiert – sie ist in eine Unterhaltung vertieft –, bewirft sie der Zehn- oder Elfjährige mit den Propellerfrüchten eines Ahornbaums. Sie liegen haufenweise am Beckenrand herum, an dem er sich inzwischen festhält. Nun blickt die Mutter hilflos zu ihm herunter und stammelt: „Aber wir gehen doch gleich essen.“ „Hol mir Pommes, Mama! Ich will Pommes!“, insistiert der Fettwanst mit der blauen Schwimmbrille. Wieder fliegt die Frucht des Ahornbaums, bezeichnet eine schöne Parabel und landet auf der ebenfalls wohlgenährten Mutter des Dickerchens. Sie hebt die Hand, versucht zu lächeln und sagt: „In fünf Minuten.“ Ich schäme mich selten, aber in diesem Augenblick schäme ich mich für die Mutter, die offenbar meint, den forschenden Blicken ihrer Gesprächspartnerin nur mit gespielter Heiterkeit etwas entgegensetzen zu können. Als der Junge nach ein paar Minuten noch einmal auf seine Portion Pommes besteht, trottet die Mutter tatsächlich in Richtung Kiosk davon und kommt wenig später mit einer Schale frittierter Erdäpfel zurück …

Kommen wir zu den Zugfahrten. Zugreisen haben häufig einen hohen Unterhaltungswert – und sie haben mir auch schon die ein oder andere Lebensabschnittsgefährtin beschert. Am 18. Juni habe ich beispielsweise notiert: „Gerade einen erstaunlichen Fall von Umweltprägung erlebt: Neben mir im Zug zwischen Sangerhausen und Magdeburg sitzt ein stämmiger Schwarzer und macht ein Nickerchen. Er redet im Schlaf. ‚Bass blöß üff mit der Schaufel!‘, ruft er. Offenbar schuftet er auf dem Bau. Als später die Schaffnerin in der Sitzreihe vor uns einen Mann höflich darum bittet, eine Maske aufzusetzen, grummelt mein inzwischen erwachter afro-sachsen-anhaltinischer Sitznachbar sichtlich verärgert: ‚Sö ein Blödsinn!‘“ Und die Zugreise ging weiter. Bis Berlin.

Eigentlich wollte ich nur zum Tätowieren in die Hauptstadt, vielleicht auch, um abends alte Freunde auf ein Bier zu treffen, falls es sich ergeben hätte. Allerdings fiel mir, nachdem ich mit dem Tätowierer sechs oder sieben Kolben Pilsator gezischt hatte, beim Einsteigen in die Berliner U-Bahn mein Smartphone aus der Hand. Und war kaputt. Schütteln, tätscheln nochmal fallen lassen: Das Display blieb schwarz. Mein Ziel war das Brauhaus am Alexanderplatz, weil ich dort mit zwei Mädels aus der niedersächsischen Provinz zum Abendessen verabredet war. Ich hatte die beiden am frühen Vormittag – man glaubt es kaum – im Zug kennengelernt. Sie trugen Thug-Life-Sonnenbrillen und waren locker drauf, also war ich recht niedergeschlagen, als ich sie im Brauhaus nicht finden konnte. Glücklicherweise fand ich aber einen alten Kumpel aus Pforzheim, der im Brauhaus vor seiner Maß hockte. Ich borgte mir sein Handy aus und schrieb den Damen auf Instagram.

Da ich nicht mehr geantwortet hatte, dachten sie, ich sei eingeschlafen. Wir trafen uns in einem anderen Speiselokal, hängten noch eine Kneipentour dran und landeten schließlich im Soda-Club. Alles in allem ein sehr gelungener Abend. Nur leider hatte ich es versäumt, meinen Freunden in Berlin zu schreiben, als ich im Brauhaus die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Als ich, nach langer Irrfahrt durch die Republik, in der Nacht von Sonntag auf Montag wieder ein Handy in der Hand hatte, antwortete mir einer dieser guten Freunde: „Junge, wir haben uns echt Sorgen gemacht. Hab sogar im Hostel angerufen, als nächstes wären Polizeiwachen und Krankenhäuser dran gewesen. Gut zu hören, dass Handy und 9€-Ticket die einzigen Probleme waren…“

Jonathan Stumpf

Jonathan, dem der Libertarismus als geborenem Ami eigentlich in die Wiege gelegt wurde, benötigte dennoch einige Umwege und einen Auslandsaufenthalt an der Universiteit Leiden, um sich diese politische Philosophie nachhaltig zu eigen zu machen. Zuvor hatte er bereits im Bachelor auf Staatskosten zwei Semester in Rumänien zugebracht. Wie jeder Geistes- oder Kulturwissenschaftler mit Masterabschluss, der etwas auf sich hält, bewegt Jonathan etwas in unserem Land. In seinem Fall sind es Container. Er hat im Sommer 2021 als Decksmann auf einem Containerschiff angeheuert.

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