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Vereinsmeier oder Biedermeier? Egal, setz dich zu uns!

5. April 2024

Was ist deutsch? Nein, keine Angst, ich bin nicht Dunja Hayali, ich meine diese Frage wohlwollend! Also, was sind die ersten, eingängigen Bilder, die man mit Deutschland verknüpft? Gartenzwerge! Ja, sehr gut. Weiter? Wandern! Bier trinken! Schnitzel, Würste und Brezeln essen! Blasmusik! Mensch ärgere Dich nicht! Freiwillige Feuerwehr! Karneval! Schrebergarten! Okay, ich denke das rei-… Postkarten schreiben! Postkarten sammeln! Skat! Falschparker anzeigen! DANKE! GENUG!

Was haben alle diese Dinge gemeinsam? Sie sorgen für Zerstreuung, sie lenken ab, die ein oder andere Beschäftigung schärft sogar das Wissen oder Können in Bereichen, die im schnöden Berufsalltag nicht gefragt sind. Es sind Interessen, die sich zu regelrechten Marotten entwickeln können, und weil der Deutsche etwas richtig macht, wenn er was macht, organisiert er sich mit Gleichgesinnten in Vereinen. Hier treffen sie sich also, die Postkartensammler (Philokartisten, nicht zu verwechseln mit den Briefmarkensammlern, den Philatelisten – komische Leute!), die Skatspieler, die Freiwillige Feuerwehr, die Schrebergartenbesitzer, die Wanderer, die Kaninchenzüchter, die Traktorfreunde, die Blasmusikanten, die Schnitzeltester, die Sänger und so weiter und so fort.

Vereine sind kein Witz, das sind keine Stuhlkreise, in denen man mal einfach so eine lockere Runde Skat kloppt oder die Trompete auspackt. Vereine sind der zumeist erfolgreiche Versuch, eine Ordnung ins kosmische Chaos zu bringen. Sie sind Gottes Wille zur Organisation der irdischen Schafherde, sie sind im metaphorischen Sinne das rot-weiße Absperrband, die akkurat geschnittene Hecke, der frischgestrichene Gartenzaun, der die Modellbahnfreunde Dödelhausen e.V. und die Hamsterzüchter Hintervordemberg e.V. von einander abtrennt. Vereine, das sind Wimpel auf dem Stammtisch, Vorsitzende, stellvertretende Vorsitzende, Kassenführer, stellvertretende Kassenführer, Jahresabschlussversammlungen, Protokollführer, Aktenordner…

Die Geschichte des deutschen Vereinswesens geht bis ins 18. Jahrhundert zurück und wurzelt im Preußischen Landrecht, das den Untertanen seiner Majestät die grundsätzliche Versammlungsfreiheit zugestand. Bedingung: Keine Politik. Tja, was soll man sagen: Natürlich wurde es politisch! Wir reden hier von Deutschen. Unsere Urururururururgroßväter marschierten in irgendeine Taverne, zogen den Zylinder, stellten ihren Wimpel – „Männergesangsverein Röhrender Hirsch“ – auf den Tisch, und dann ging es los! Eine Runde Bier, eine Runde Schnaps. „Napoleon, dieser Banause! Und der König tut nichts! Schnauze, da hört jemand mit…“

Das ist so deutsch, so durch und durch deutsch, das streift man nicht ab, damit muss man lernen zu leben. Jedenfalls erlebte das Vereinswesen dann in der Kaiserzeit einen erheblichen Schub, denn das frei verfügbare Einkommen stieg („Noch eine Runde Bier!“) genau so wie die frei verfügbare Zeit („Schatz, ich bin dann mal weg!“). Vereine waren ja von Beginn an nicht nur Interessengemeinschaften oder Diskussionsforen, sie waren auch ein Ort, an dem man Gleichgesinnte traf – überhaupt ist das ja auch ein sehr deutsches Bedürfnis, die tief empfundene Erleichterung, die sich einstellt, wenn man sich von Menschen umgeben weiß, die neben der grundsätzlichen Weltanschauung auch den Erfahrungshorizont teilen. Veteranenvereine wären da zu nennen, aber eben auch Vereine, die ehemalige Lokführer, Bergleute oder weiß der Geier wen zusammenbringen.

Im deutschen Vereinswesen gibt es seit Jahrzehnten eine widersprüchliche Entwicklung: Einerseits steigt die Zahl der eingetragenen Vereine, Stand 2022 gibt es derer rund 615.000! Andererseits reißen die Klagen über den Mangel an Mitgliedern nicht ab. Und in der Tat, gerade auf dem Land sind die klassischen Vereine – man denke hier vor allem an die Männergesangsvereine – heillos überaltert. Dass bei gleichzeitiger Überalterung die Zahl der Vereine so stark steigt (1995 lag die Zahl noch bei 416.000), liegt – so meine Vermutung – an der Aufblähung der Sozialindustrie. (Ich lasse mich da aber gerne eines Besseren belehren.)

Jedenfalls: Worauf ich eigentlich hinauswollte, ist weniger ein verzweifelter Massenappell zum Eintritt in die dahinsiechenden Vereine. Wer das will, hat das schon längst getan. Ich selbst bin kein ausgesprochener „Vereinsmeier“, und ich kann es verstehen, wenn jemand wenigstens seine Freizeit unreguliert genießen will. Nein, was ich anstoßen möchte, ist vielmehr die Beschäftigung mit Dingen, die außerhalb der Politik liegen. Ich glaube zwar nicht, dass das so etwas wie die gutgemeinte Intention des Preußischen Landrechts war, aber es muss einfach Möglichkeiten geben, bei denen einander sympathisch gestimmte Menschen zusammentreten, um gemeinsam einer Leidenschaft zu frönen. Das kann gerne zur Marotte werden, die vor Außenstehenden nicht gerechtfertigt werden muss.

Ja, das klingt nach Biedermeier – oder passender: Wiedermeier –, und Kollege PhrasenDrescher geht genau darauf in der kommenden Printausgabe ein. Ich denke also, dass der Punkt klar ist: Das negative Reizpotenzial politischer Themen ist selbst unter Gleichgesinnten groß. Man kann zum tausendsten Mal die Regierung wegwünschen, man kann in derselben Zeit aber auch Schach spielen. Da gleicht keine Partie der anderen.

Friedrich Fechter

Fechter studiert im Herzen Deutschlands und muss sich an seiner linksversifften Universität den typischen Gängelungen aussetzen. Er interessiert sich für Kunst, Geschichte und ist Meister der Halbsätze. Als Fechter das erste Mal ein Cover der Krautzone sah, hielt er das pixelige Layout für eine durchtriebene Werbestrategie. "Bestimmt", dachte er sich beim Durchblättern, "hier sind verschlagene Profis am Werk."


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