Einer meiner Leser fragte mich neulich, wie ich damit umgehe, nicht immer der Stärkste zu sein. Donnie bezog sich mit seiner Frage auf körperliche Stärke, doch ich bin der Ansicht, dass diese Frage grundsätzlich wichtig ist, unabhängig vom konkreten Kontext. Denn ich bin ja nicht nur nicht immer der Stärkste, sondern allgemein und in zahllosen Dimensionen nicht immer “der Beste”.
Allerdings haben wir Männer diesen natürlichen Trieb, der Beste sein zu wollen. Glücklicherweise beschränkt sich dieser Trieb meistens auf bestimmte Bereiche; bei dem einen beispielsweise auf Kraftsport, bei dem anderen beispielsweise auf seinen beruflichen Erfolg. Ich schreibe “glücklicherweise”, weil der Beste sein zu wollen ziemlich anstrengend ist – und in umso mehr Bereichen du der Beste sein willst, desto schwerer wird es. Niemand ist gleichzeitig Starkoch, Weltmeister im Gewichtheben und CEO eines Weltkonzerns.
Du kannst nicht in allem der Beste sein
Wir müssen uns für bestimmte Entwicklungswege entscheiden, wenn wir überhaupt vorankommen wollen, geschweige denn der Beste zu werden. Das bedeutet, dass der Beste in X zu sein, zwangsläufig bedeutet, nicht der Beste in Y zu sein. Wir haben nur begrenzte Ressourcen und Kapazitäten, wir können in einem Leben nur begrenzt viele Dinge meistern; ganz egal wie talentiert oder fleißig wir sind.
Das ist eine vielleicht banale und doch profunde Einsicht, die allen Leistungsdruck sofort in einem anderen Licht erscheinen lässt. Immer wenn wir der Beste in etwas sein wollen – beispielsweise der körperlich Stärkste im eigenen Dunstkreis oder der reichste Mann seiner Heimatstadt oder oder – dann ist das zunächst einmal eine selbstgewählte Herausforderung, die wir realistischerweise nur annehmen können, wenn wir bereit sind, dafür in anderen Dingen richtig schlecht zu sein.
Sich auf eine Sache zu fokussieren bedeutet, andere Sachen zu defokussieren. Fokus und Leistung in einem Bereich kosten Fokus und Leistung in einem anderen Bereich. Wir können lediglich entscheiden, welchem Bereich wir uns widmen, das ist letztendlich alles. Das vorausgeschickt zurück zu Donnies Frage: Wie gehe ich damit um, nicht immer der Stärkste zu sein?
Na und?
Ehrlich gesagt gehe ich damit kaum um, da ich mich kaum mit anderen vergleiche. Natürlich kommt es manchmal vor, dass es mir förmlich ins Auge springt, dass jemand stärker ist als ich. Oder reicher, schöner, klüger, erfolgreicher, beliebter, was auch immer. Doch was interessiert mich das? Ich bin ein wohlverstandener Egoist, mir schmeckt nur, was mir zuträglich ist. Mich mit anderen zu vergleichen schmeckt mir nicht, ich sehe zu, dass ich mich nur mit mir selbst vergleiche.
Wohlverstandener Egoismus aka gesunde Selbstliebe verträgt sich nicht mit der Gewohnheit, sich mit anderen zu vergleichen. Du bist vielleicht der Präsident deines Unternehmens, aber was ist das gegen den Präsidenten von Blackrock? Egal wie toll du bist, du findest immer jemanden, der noch toller ist. Deswegen ist das Vergleichen mit anderen eine schädliche Gewohnheit.
Stattdessen: Vergleiche dich mit dem, der du gestern warst, nicht damit, wer jemand anderes heute ist – um Jordan Peterson zu paraphrasieren. Und um Nietzsche mit ins Boot zu holen:
Der Mensch ist ein mittelmäßiger Egoist: auch der Klügste nimmt seine Gewohnheit wichtiger als seinen Vorteil.
Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888
Deswegen arbeite ich stets daran, ein hervorragender Egoist zu sein – und überprüfe daher immer wieder meine Gewohnheiten auf ihre Nützlichkeit. Falls notwendig passe ich sie an, konditioniere mich selbst so, wie es meinen Zielen dienlich ist. Dabei ist Selbstehrlichkeit gefragt, denn:
Nun gibt es viele Dinge, an welche der Mensch sich so gewöhnt hat, dass er sie für zweckmäßig hält; denn die Gewohnheit mischt allen Dingen Süßigkeit bei und nach der Lust schätzen die Menschen meistens das Recht einer Sache.
Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 1875
Deine Gewohnheiten müssen dir dienen, nicht du deinen Gewohnheiten. Das bedeutet, dass du sie immer wieder auf deine persönliche Situation anpassen und feinjustieren musst. Zu wohlverstandenem Egoismus und Gewohnheiten siehe auch Odin, Nietzsche und der Pfad zur linken Hand.
Neid ist Gift
Das einzig sinnvolle Verhalten gegenüber denjenigen, die besser sind als du, ist ihnen Respekt zu zollen und von ihnen zu lernen. Neid ist eine der giftigsten Emotionen überhaupt und ein Kernelement der Sklavenmoral (siehe Kapitel 3 in Odin, Nietzsche und der Pfad zur linken Hand). Beneide niemanden, beglückwünsche jeden.
Wenn jemand stärker ist als ich, und ich gerade daran interessiert bin, meine Kapazitäten dem Stärkerwerden zu widmen, dann versuche ich von ihm zu lernen. Und das gilt natürlich genauso für alle anderen Dimensionen von Leistung. Dass dieses Verhalten rational ist, liegt auf der Hand. So lernt man dazu und entwickelt sich weiter, so wächst man. Und um Camille Paglia zu zitieren:
A Woman simply is, but a Man must first become.
Dieses Wachsen, dieses Becoming, wird in vielen Männern durch die Tyrannei ihres Egos verhindert. Sie sind keine wohlverstandenen Egoisten, sondern Sklaven ihres Egos. Dem Ego schmeckt es nicht, dass jemand anderes besser ist. Deswegen will das Ego auch zu keinem Ideal aufblicken, keinen Mentor über sich haben, nicht Schüler sein. Doch nur wer Schüler ist, kann Meister werden.