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Chinas Rückkehr zur Weltmacht (Teil 1)

13. Mai 2021
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Von Peter Kuntze

Vor sieben Jahren, im Mai 2014, zog Staats- und Parteichef Xi Jinping vor Studenten und Dozenten der Peking-Universität eine bittere historische Bilanz: „China war einst eine der großen Wirtschaftsnationen der Welt. Es hat allerdings die Chancen, die in der industriellen Revolution und den darauf folgenden dramatischen Veränderungen lagen, verstreichen lassen.

Insbesondere nach dem Opiumkrieg von 1840 lieferte sich unser armes und schwaches Land der skrupellosen Unterdrückung und Ausbeutung durch ausländische Mächte aus.“ Diese historische Tragödie, so Xi, „darf sich auf keinen Fall wiederholen!“

Diesmal ist alles anders

Sieben Jahre später muß nicht nur Stefan Kornelius, Politik-Chef der Süddeutschen Zeitung, einräumen, daß Xis Appell erfolgreich war: „Chinas Fußspuren in der Welt sind groß geworden. China wächst, investiert, zieht Kapital an, modernisiert, erfindet. Das Tempo ist atemraubend“ (SZ, 29. April).

Keine Frage: Chinas wirtschaftliche Entwicklung ist in der jüngeren Geschichte der Menschheit beispiellos. Seit 1980 haben 700 Millionen Chinesen den Armutsstatus verlassen – mehr als irgendwo sonst; 500 Millionen erzielen heute ein mittleres Einkommen. Experten schätzen, daß sich diese Zahl bis 2050 auf rund 900 Millionen erhöhen wird. Schon jetzt ist der Binnenmarkt der Volksrepublik der größte und lukrativste der Welt.

Wie die UNCTAD, die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, in ihrem letzten Jahresbericht (April 2021) feststellt, lag Chinas Anteil am Welthandel Ende der siebziger Jahre noch bei weniger als einem Prozent, heute ist er auf mehr als fünfzehn Prozent gestiegen. Bereits 2010 sei die Volksrepublik unangefochtener Exportweltmeister geworden.

Für die globale Produktion habe Chinas Bedeutung in den meisten Sektoren stetig zugenommen – von Präzisionsinstrumenten und Industriemaschinen bis hin zu Computern und Smartphones. In Forschung und Wissenschaft belegt Peking mittlerweile Spitzenpositionen.

Die Kommunistische Partei und ihre Anfänge

Der phänomenale Wiederaufstieg des einstigen „Reichs der Mitte“ wird – nolens volens – nur angesichts der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) verständlich. Sie ist es, die 1949 die Volksrepublik erkämpft, gegründet und im Positiven wie im Negativen geprägt hat. Mit rund neunzig Millionen Mitgliedern ist sie heute die größte Partei der Welt.

Daß die KP in wenigen Wochen den 100. Jahrestag ihrer Gründung feiern kann, hätte sicher keiner der zwölf Delegierten zu träumen gewagt, die sich am 23. Juli 1921 in einer leerstehenden Mädchenschule in Schanghais französischer Konzession trafen. Landesweit vertraten sie kaum mehr als hundert Genossen. Nach einigen Sitzungen wurde es ihnen, darunter der 28jährige Mao Zedong, zu gefährlich. Um Polizei und französischen Spitzeln zu entgehen, setzten sie, getarnt als Sommerfrischler, den Kongreß auf einer Ausflugsdschunke fort.

Schanghai war damals bereits ein bedeutendes Industriezentrum und mit sechs Millionen Einwohnern die größte Stadt Asiens. Das Elend jedoch war unvorstellbar. Ein amerikanischer Geschäftsmann, der Anfang des letzten Jahrhunderts in China lebte, stellte rückblickend fest:

„Der Weiße war der Herr. Ich kannte Schanghai, als es die heiterste Stadt im Fernen Osten war – das heißt heiter, wenn man Ausländer oder chinesischer Millionär war. Jeden Abend lagen Leichen auf den Straßen. Es gab Schwärme von Bettlern. Und die kindlichen Straßenmädchen. Und die schwitzenden Rikscha-Kulis mit einer beruflichen Lebenserwartung von acht Jahren, wenn sie nicht zu viel Opium rauchten…“

Wie die Vertreter des christlichen Abendlandes seinerzeit auftraten, verdeutlichte eine Aufschrift am Eingang zum englischen Golfplatz in Schanghai: „Hunden und Chinesen ist der Zutritt verboten“.

An den Grenzen des Reiches standen die Barbaren

Chungguo („Reich der Mitte“) nannten die Chinesen von alters her ihr Land. Jahrtausende hindurch empfanden sie sich als Mittelpunkt der geographischen und kulturellen Welt, als Staat, der von unterlegenen „Barbaren“ umgeben war. Diese Selbsteinschätzung war nicht ganz unberechtigt, denn das Land, in dem Kompaß, Schießpulver, Papier und Buchdruck erfunden wurden, kann auf die weltweit längste kontinuierliche Geschichte zurückblicken.

Dynastien beherrschten das Reich, erweiterten es und gingen zugrunde, bis ein neuer Sohn des Himmels die Macht ergriff. Einen ersten Höhepunkt erlebte das Reich der Mitte während der Ming-Dynastie (1368 – 1644): Gewaltige Flotten durchkreuzten die südlichen Meere und gelangten erstmals bis an die Küste Ostafrikas.

Die Mandschuren, ein Volk aus dem Nordosten Chinas, stürzten die Ming vom Drachenthron und gründeten 1644 die Qing-Dynastie. In ihr Staatsgebiet wurden die Mongolei, Tibet, Ostturkestan (das heutige Xinjiang) sowie die Mandschurei fest eingegliedert; Korea, Vietnam, Burma und Nepal standen unter ihrem politischen Einfluß. Kangxi, der zweite Mandschu-Kaiser, gehörte zu Chinas bedeutendsten Herrschern. Seine lange Regentschaft (1662 – 1722) war die vorerst letzte große Blütezeit, die bis nach Europa ausstrahlte. In jener Epoche umfaßte das chinesische Schrifttum mehr gedruckte Bücher als die Literatur der gesamten übrigen Welt.

Der tiefe Fall einer Weltmacht

Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann der Niedergang – äußerlich gekennzeichnet durch politische Mißwirtschaft und Volksaufstände, beschleunigt durch das Eindringen fremder Mächte. 1842, nach dem von Großbritannien begonnenen und gewonnenen Opiumkrieg, mußte der Drachenthron den ersten „ungleichen Vertrag“ unterzeichnen.

China wurde gezwungen, Hongkong abzutreten sowie fünf weitere Häfen für den britischen Handel zu öffnen. Diesem Beispiel folgend, wurden Peking ähnliche Verträge von den USA, Frankreich, Belgien, Schweden, Norwegen und Portugal, später auch von Rußland, Deutschland und Japan aufgenötigt.

Diese Abkommen schränkten Chinas Souveränität so stark ein, daß es Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Status eines halbkolonialen Landes sank: Fast alle bedeutenden wirtschaftlichen Unternehmen standen unter der Kontrolle ausländischen Kapitals, christliche Missionen erhielten Sonderrechte, die Fremden waren der Gerichtsbarkeit ihrer jeweiligen Konsulate unterstellt, die ausländische Schiffahrt genoß auf allen Gewässern absolute Freiheit, Peking verlor Teile seiner Zollhoheit.

Den nicht nur waffentechnisch überlegenen Fremden hatte die mandschurische Qing-Dynastie nichts entgegenzusetzen; 1911 mußte sie abdanken. Damit war der auf eine zweitausendjährige Vergangenheit zurückblickende konfuzianische Staat zusammengebrochen. 1912 rief Sun Yat-sen, der „Vater der chinesischen Revolution“, wie er später genannt wurde, die Republik China aus.

Der lange Weg zurück an die Spitze

In Tokio hatte Sun, Doktor der Medizin, den „Chinesischen Revolutionsbund“ gegründet, einen Zusammenschluß mehrerer Geheimgesellschaften. Besonders unter jungen Chinesen, die damals zum Studium moderner Wissenschaft und Technik nach Japan gingen, waren jene Organisationen äußerst populär. Ziel war es, die Monarchie durch ein republikanisch-demokratisches System zu ersetzen und grundlegende Sozial-und Wirtschaftsreformen einz
uleiten. Aber das Vorhaben scheiterte.

Um in jener Zeit des Umbruchs weitere Konflikte zu vermeiden, trat Sun Yat-sen das Amt des Staatspräsidenten an Marschall Yüan Schi-kai ab, der sich jedoch bald zum Diktator aufschwang und eine neue Dynastie gründen wollte. Nach Yüans Tod im Jahr 1916 zerfiel die zentrale Staatsmacht vollends. In nahezu pausenlosen Bürgerkriegen verwüsteten Militärmachthaber (warlords) das Land. Erst 1928 gelang es Tschiang Kai-schek, fast ganz China seiner Regierung zu unterstellen.

Der Generalissimus hatte 1925 nach dem Tod Sun Yat-sens die Führung der Kuomintang (KMT), der Nationalen Volkspartei, übernommen. Zuvor hatte ihn Sun zum Studium des Aufbaus von Partei und Armee nach Moskau geschickt, denn in der jungen Sowjetunion sahen viele nationalchinesische Revolutionäre gleichgesinnte Verbündete. Umgekehrt setzten auch die Nachfolger Lenins ihre Hoffnungen auf Sun und seine Gefolgsleute.

Die Sowjetunion als Vorbild

Schließlich mußte nach sowjet-marxistischer Überzeugung erst eine bürgerlich-kapitalistische Zwischenphase das noch feudale China für den Sozialismus reif machen. Moskau und die Komintern unterstützten daher von Anfang an nur halbherzig die kurz zuvor gegründete KP.

Als der linke Flügel der KMT eine Koalition mit den Kommunisten schloß, die in Schanghai eine bewaffnete Kommune gebildet hatten, und Tschiang Kai-schek seiner politischen Ämter enthob, schlug der Generalissimus zurück: 1927 löste er die Kommune mit Waffengewalt auf, unterdrückte die Arbeiterbewegung und schickte die sowjetischen Berater nach Hause.

Das „Blutbad von Schanghai” wurde zum Wendepunkt der Revolution. Zwar erhielt China mit der Nationalregierung in Nanking wieder ein einheitliches politisches Gefüge, doch die KMT trug den Keim des Untergangs bereits in sich: Korruption breitete sich aus; nicht mehr energische Reformen, sondern die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung war Tschiangs oberstes Ziel.

Der Generalissimus, der eine Militärdiktatur errichtete, mußte fortan an zwei Fronten kämpfen: gegen die Japaner und gegen die chinesischen Kommunisten. 1932 hatten japanische Truppen die Mandschurei erobert, 1937 kam es an der Marco-Polo-Brücke in Peking zu einem schweren Zusammenstoß, der einen achtjährigen Krieg zwischen beiden Staaten auslöste und zum Auftakt des Zweiten Weltkriegs wurde.

Mao begibt sich an die Arbeit

Chinas KP spielte vorerst keine Rolle. Nach dem Bruch mit der Kuomintang hatte sie sich nur in einigen Großstädten als Untergrundorganisation halten können und verlor zusehends an Einfluß, weil die unter der Kontrolle der Komintern stehende Parteiführung wenig Geschick bei der Gewinnung der zahlenmäßig ohnehin kaum ins Gewicht fallenden Industriearbeiter bewies. Zudem erkannte sie nicht die überragende Bedeutung der Agrarfrage.

Lediglich Mao, der entgegen dem Willen des moskautreuen Flügels der KP Bauernbünde organisierte, war zu der Überzeugung gelangt, die Revolution könne nur Erfolg haben, wenn sie sich auf die von Warlords, Beamten und Grundbesitzern unterdrückten und ausgebeuteten Bauern stütze, die fast neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachten. Ihm gelang es, im Tschingkang-Gebirge in der südlichen Provinz Kiangsi einen kleinen Sowjetstaat zu errichten, in dem 1932 auch die Leitung der KP Zuflucht suchte. Stalin und die Komintern stimmten widerwillig zu.

Bis 1934 konnte sich Maos Bauerntruppe gegen die „Ausrottungs- und Vernichtungsfeldzüge“ der KMT-Armee behaupten. Dann durchbrachen die Kommunisten die Umzingelung und zogen in dem legendären, über 12.500 Kilometer führenden Langen Marsch nach Nordchina in die Provinz Schensi, wo Mao 1936 sein neues Machtzentrum aufbaute. Von 100.000 Mann sollen nur 10.000 die Strapazen überlebt haben, doch der Propagandaerfolg war gewaltig und ein Meilenstein auf dem Weg zum späteren Sieg der „Volksbefreiungsarmee“.

Taiwan

Nur der Krieg gegen Japan vereinte noch einmal Nationalisten und Kommunisten. 1947 indes wurde der Bürgerkrieg mit aller Härte fortgesetzt und endete 1949 mit der Vertreibung der Kuomintang-Anhänger auf die Insel Taiwan.

Während Tschiang Kai-schek, politisch und militärisch von den USA unterstützt, von der Rückeroberung des Festlandes träumte, verkündete Mao in Peking die Gründung der Volksrepublik: „China, ein Viertel der Menschheit, hat sich erhoben“, rief er unter dem Jubel der Menge. „Nie wieder wird unsere Nation gedemütigt werden!“

Es bleibt das historische Verdienst der Revolutionäre um Mao Zedong, Zhou Enlai, Deng Xiaoping und vieler anderer, ihr Land auf die weltpolitische Bühne zurückgebracht zu haben.

In seinem eingangs zitierten Statement zu Chinas beeindruckendem Aufstieg fragt SZ-Autor Kornelius: „Was genau ist das Ziel?“ und gibt sich und seinen Lesern die Antwort:

„Ein Weltordnungsmodell nach chinesischem Muster, das sich an Geschäft und politisch-militärischer Stärke orientiert. Moral, Gesinnung? Kommen in die Mottenkiste.“

Vielleicht eine etwas vorschnelle Aussage – noch dazu aus dem Mund eines überzeugten Transatlantikers.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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