Nachdem Mao Zedong am 1. Oktober 1949 feierlich die Gründung der Volksrepublik China proklamiert hatte, wandte er sich, so heißt es, an seine engsten Mitstreiter mit der Frage: „Was sollen wir jetzt tun? Wir können Tische und Stühle zimmern, wir können Getreide anbauen, Weizen mahlen und Papier produzieren. Aber wir können kein einziges Auto, kein Flugzeug, keinen Panzer und keinen Traktor herstellen.“
China war damals am Ende, Krieg und Bürgerkrieg hatten es verheert. Felder waren verwüstet, Brücken und Dämme zerstört, die wenigen Industriebetriebe lagen in Schutt und Asche. Auf dem Land waren fast achtzig Prozent der durch Hunger und Krankheit gezeichneten Bevölkerung Analphabeten. Hinzu kam, daß das Pekinger Regime von nahezu allen westlichen Staaten geächtet wurde – in erster Linie von den USA, die mit einer Politik des Containment die Volksrepublik isolierten und die im Bürgerkrieg besiegten und nach Taiwan geflüchteten Nationalisten auch militärisch unterstützten.
Der schwere Start der Volksrepublik
Auf der Insel, nur wenige Kilometer vom Festland entfernt, regierte Tschiang Kai-schek weiter als Präsident der durch den Sieg der Kommunisten obsolet gewordenen Republik China. Nicht nur Amerika, die meisten Staaten erkannten die Exil-Regierung als legitime Nachfolgerin des 1912 gestürzten Kaiserreichs an.
Auch ihr Sitz im Weltsicherheitsrat wurde vorerst bestätigt, gehörte doch die Republik China 1945 zu den fünf Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen. Wegen Amerikas Einmischung in den fernöstlichen Bürgerkrieg schwelt der Taiwan-Konflikt bis heute und kann jederzeit eskalieren.
Auf dem Festland ging seinerzeit der Wiederaufbau, allen Widrigkeiten zum Trotz, nicht zuletzt dank temporärer Hilfe der Sowjetunion einigermaßen zügig voran. Die Inflation wurde gestoppt, fehlendes Kapital durch Fleiß und Opferbereitschaft von Millionen Bauern ersetzt, die im Westen oftmals als „blaue Ameisen“ verspottet wurden.
Doch seit 1957, resümierten später sowohl Deng Xiaoping als auch Xi Jinping, häuften sich Maos Fehler. Ursache sei dessen „linksextremistischer Leitgedanke des fortgesetzten Klassenkampfes“ gewesen.
So hatte Mao 1958 die forcierte Gründung von Volkskommunen propagiert. In einem „Großen Sprung nach vorn“ sollte China im Wettstreit mit den sowjetischen Rivalen dem Ziel des Kommunismus näherkommen. Da die marxistische Utopie im „Absterben des Staates“ gipfelt, sollten die riesigen Kommunen in ihrem jeweiligen Gebiet für Landwirtschaft, Industrie, Handel, Verteidigung, Schulen, Kliniken etc. zuständig sein und sich selbst verwalten. In der Endstufe, so der Plan, würde eines Tages ganz China eine einzige klassenlose Volkskommune sein.
Der Große Sprung ins Grab
Dieses Sozial- und Menschenexperiment endete nach drei Jahren in einer beispiellosen Katastrophe. Aufgrund der 1958 erzielten Rekordernte war vielerorts die Einführung einer kostenlosen Verpflegung eingeführt worden. Viele Arbeitskräfte wurden aus der Landwirtschaft abgezogen oder mußten sich an einer gigantischen Stahlschmelz-Kampagne beteiligen, die auf den Dörfern die industrielle Grundlage schaffen sollte – mit fatalen Folgen: Der Hinterhof-Stahl war völlig minderwertig, die Aussaaten wurden vernachlässigt. Durch Naturkatastrophen und Mißernten war die Hungersnot so groß, daß Peking Getreide importieren mußte.
Mindestens 36 Millionen Menschen, so die Schätzung, fielen den Ideen des „Großen Steuermanns“ zum Opfer. Mao blieb zwar KP-Chef, mußte aber das Amt des Staatspräsidenten abgeben. Die Volkskommunen wurden wieder verkleinert. Gleichzeitig machte die Partei klar, daß entgegen den radikal gleichmacherischen Vorstellungen der Linken die Häuser der Bauern und sonstiger Privatbesitz stets persönliches Eigentum bleiben werden.
Mit einem spektakulären Bad im Jangtsekiang meldete sich 1966 der damals 72jährige Mao zurück und entfesselte die Große Proletarische Kulturrevolution. Sie war der Versuch, noch einmal die Vision einer klassenlosen Gesellschaft durch die Erschaffung eines „neuen Menschen“ Wirklichkeit werden zu lassen. Als Lehre aus dem Desaster des „Großen Sprungs“ blieb die Wirtschaft vorerst unangetastet.
Im Zentrum der Kritik stand diesmal, marxistisch gesprochen, der geistige Überbau. Dort, so Mao, habe eine „neue Klasse“ Schulen, Universitäten, Medien, Kunst, Literatur, Theater und Film unter ihre Kontrolle gebracht. Künftig müßten Arbeiter und Bauern, zu „roten Experten“ ausgebildet, auch in diesen Bereichen die Macht übernehmen.
Kulturrevolution!
Auf einer Tagung des Politbüros wurde unter Leitung Jiang Qings, Maos Ehefrau, eine „Gruppe für die Kulturrevolution“ gegründet. Mit der intellektuellen Opposition, die der proletarischen Klasse die Macht entrissen habe, müsse ein „Kampf auf Leben und Tod“ geführt werden. Dieser Appell richtete sich in erster Linie an die Jugend, denn von ihr erhofften sich die Linken um Mao die revolutionäre Wende.
In den nächsten Wochen bildeten sich überall Vereinigungen von Schülern und Studenten, die als Rote Garden Jagd auf angebliche Konterrevolutionäre machten. Maos Parole „Rebellion ist berechtigt!“ war auf fruchtbaren Boden gefallen – selbst im fernen Westen, wo sie damals die Studentenunruhen zusätzlich befeuerte.
In China wurden Schulen und Universitäten geschlossen, die Roten Garden durften kostenlos mit der Bahn durchs Land reisen und in jedem Winkel „Klassenfeinde“ aufspüren. Dabei kam es zu Exzessen und unvorstellbaren Grausamkeiten. Alte Kulturgüter wurden vernichtet, Tempel zerstört, Bücher und Gemälde verbrannt.
Die angeblichen Arbeiterverräter – Lehrer, Vorgesetzte in Büros und Betrieben, Künstler, Parteifunktionäre – wurden in stundenlangen „Kampf- und Kritiksitzungen“ physisch und psychisch erniedrigt und drangsaliert. Zu den Opfern gehörten auch Deng Xiaoping und, wenngleich indirekt, der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping.
Die Rote Garde dreht durch…
Deng mußte sein Amt als Generalsekretär der KP abgeben und wurde auf Maos Veranlassung unter entwürdigenden Bedingungen für sieben Jahre in seine Heimatprovinz Sichuan verbannt. Immer wieder hatte er sich gegen linksradikale Tendenzen gestemmt und gefordert, „die Wahrheit in den Tatsachen“, nicht in ideologischen Lehrbüchern zu suchen.
Statt auf den Klassenkampf müsse der Schwerpunkt auf den wirtschaftlichen Aufbau gelegt werden. Zum geflügelten Wort wurde Dengs pragmatische Devise: „Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse.“
Xis Vater, in den dreißiger Jahren ein enger Weggefährte Maos, war bereits 1962 in Ungnade gefallen und stand die nächsten zwei Jahrzehnte unter strengem Hausarrest. 1969 wurde sein fünfzehnjähriger Sohn Jinping in ein kleines Bauerndorf in Zentralchina verfrachtet, wo er zeitweise in einer fensterlosen Höhle hausen mußte, ehe er 1975 nach Peking zurückkehren durfte.
… und wird schließlich selbst umerzogen
Dieses Schicksal teilte er mit Millionen seiner Altersgenossen – doch aus anderen Gründen. Im Gegensatz zu Jinping waren sie Maos Aufrufen gefolgt und mußten jetzt erleben, daß auch diese Revolution ihre Kinder fraß: Die Roten Garden hatten sich in rivali
sierende Gruppen gespalten, die sich bald mit Waffengewalt bekämpften.
Als Betriebe lahmgelegt und auf den Feldern die Ernte in Gefahr geriet, griff die Armee ein und sorgte für Ordnung. Ende 1968 rief Mao die Jugendlichen auf, „hinunter ins Dorf und hinauf auf die Berge“ zu gehen. Zehn Millionen Schüler und Studenten wurden aufs Land geschickt, um von den Bauern zu lernen.
Am 9. September 1976 starb der seit drei Jahren an Parkinson erkrankte Mao Zedong. Die Ultralinken um seine Witwe Jiang Qing planten die Machtübernahme. Doch ihre Gegner, darunter der 1973 nach Peking zurückgekehrte Deng Xiaoping sowie führende Militärs, ließen die im Volk verhaßte „Vierer-Bande“ am 6. Oktober verhaften und vor Gericht stellen. Jiang Qing nahm sich 1991 in der Haft das Leben.
Die Kulturrevolution warf China zurück
Die Kulturrevolution, die einen „neuen Menschen“ hervorbringen sollte, war auf ganzer Linie gescheitert. Bis zu zwanzig Millionen Menschen sollen ihr zum Opfer gefallen sein. Die Verketzerung von Wissen und Bildung, von Expertentum und überlieferter Kultur warf das Land um viele Jahre zurück.
In China ist jene verheerende Epoche noch heute ein Tabuthema, denn nahezu jede Familie war direkt oder indirekt in die Wirren verstrickt – sei es auf der Täter-, sei es auf der Opferseite. Hinzu kommt, daß die Partei damals tief gespalten war und es vornehmlich Kinder der roten Elite waren, die gegen die eigene Elterngeneration rebellierten.
Auch ohne das Amt eines Staats- oder Parteichefs war es Deng Xiaoping, der nach Maos Tod die Richtlinien der Politik bestimmte. China war zu jener Zeit ein noch immer bäuerlich geprägtes Armenhaus. Für die Misere waren jedoch nicht nur linksradikale Exzesse verantwortlich, sondern, wie Xi Jinping 2016 konstatierte, die Abschottung vom Weltmarkt und die Kopie der sowjetischen Planwirtschaft.
Deng bringt das Riesenreich auf Spur
Um das Land aus der Sackgasse zu führen, ordnete Deng die Auflösung der Volkskommunen an und entsandte Delegationen ins westliche Ausland, die vom „Klassenfeind“ lernen sollten. Er selbst besuchte Singapur und ließ sich das prosperierende Wirtschaftssystem des kleinen Stadtstaates erklären.
Die Erkenntnisse waren umstürzend: Die moderne kapitalistische Gesellschaft, so die Botschaft daheim, sei das Gegenteil von dem, was in China und im gesamten Ostblock gelehrt werde. In Wahrheit sei der Markt weder anarchisch noch monopolistisch; den bürgerlichen Regierungen gelinge es immer besser, durch staatliche Eingriffe ökonomische Krisen zu meistern. Überall spiele der Mittelstand eine wachsende Rolle.
Ein Jahrzehnt vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Trabanten zog Deng die Konsequenzen. Gegen den Widerstand der Orthodoxen setzte er seine bis heute erfolgreich praktizierte Reform- und Öffnungspolitik durch. Mit dem Argument, Sozialismus bedeute nicht Armut, sondern gemeinsamen Wohlstand, konnte er die Mehrheit überzeugen.
Der Drache erhebt sich
Aus dem Parteiprogramm ließ er die Losung vom „Klassenkampf als leitendes Prinzip“ entfernen und statt dessen die Einführung einer sozialistischen Marktwirtschaft festschreiben, die heute als „Sozialismus chinesischer Prägung“ firmiert.
Das Ergebnis war phänomenal: In rasantem Tempo entwickelte sich die Volksrepublik zu einem modernen Industriestaat, auch wenn sie in mancher Hinsicht noch heute ein Entwicklungsland ist.
Von 1978 bis 2015 stieg das Bruttoinlandsprodukt um das 48fache. Dank Globalisierung und Digitalisierung ist China mittlerweile die zweitgrößte Wirtschaftsmacht und verfügt mit drei Billionen Dollar über die meisten Devisenreserven.
Überhitzung
Ende der achtziger Jahre zeigten sich jedoch die Schattenseiten des fulminanten Aufschwungs: hohe Inflationsraten, Korruption auf allen Ebenen sowie eine gigantische Umweltverschmutzung. Besonders unter Intellektuellen und Arbeitern der Staatsbetriebe wuchs der Unmut, denn sie waren anfangs die großen Verlierer der Reformen.
Im Frühjahr 1989 formierte sich der Protest zu einer so großen Demokratie-Bewegung, daß Deng sein Lebenswerk bedroht sah. In der Nacht zum 4. Juni ließ er den „konterrevolutionären Putsch“ blutig niederschlagen. Die Zahl der Todesopfer des „Tiananmen-Massakers“ ist bis heute unbekannt.
Als Konsequenz stellte Deng Xiaoping apodiktisch klar, was bis heute für alle seine Nachfolger gilt: „Wir können nicht einfach die bürgerliche Demokratie kopieren. Das würde das Ende der Führung durch die Partei bedeuten, und dann wäre da nichts mehr, was unser Ein-Milliarden-Volk eint.“
Es wird nicht beim Sozialismus bleiben
Um den Herausforderungen der Gegenwart gerecht zu werden und den Sozialismus stets den chinesischen Bedingungen anzupassen, fordert der seit 2012 amtierende Staats- und Parteichef Xi Jinping, der Marxismus müsse stets „weiter sinisiert und modernisiert“ werden.
Anläßlich des 95. Jahrestages der Gründung der KP erklärte er im Juli 2016: „Marxismus bedeutet nicht die letzte Wahrheit. Breite und Tiefe der zeitlichen Veränderungen und der chinesischen Entwicklung gehen weit über die damaligen Vorstellungen der Verfasser der klassischen marxistischen Schriften hinaus.“
Unter Berufung auch auf Konfuzius stellte Xi klar, gemeinsamer Wohlstand und gesellschaftliche Harmonie seien ein Ziel nicht nur des Marxismus, sondern seit der Antike auch ein Grundideal des chinesischen Volkes. In der Tat zieht sich das Urbild von der „Großen Gemeinschaft“ (tatung) wie eine kommunistische Utopie durch Chinas Geschichte.