Von U. B. Kant
Am Abend des 23. Dezember 2000 entdeckte ich eine neue Welt für mich. Nachts hatte es geschneit und so waren am Morgen dieses 23. Dezembers die Dächer und Baumwipfel in der Nachbarschaft schneebedeckt, grenzten sich strahlend weiß vom wolkenlos blauen Himmel ab.
Den ganzen Tag, schon voll gespannter Vorfreude auf den nächsten, konnten wir von einem ehemaligen Burghügel rodeln und als wir mit roten Wangen heimkehrten, hatte unser Vater den Weihnachtsbaum von der Terrasse ins Wohnzimmer geholt. Entgegen unserer sonstigen Gewohnheiten begannen wir den Baum noch am selben Abend zu schmücken, während im Hintergrund der Fernseher eingeschaltet war.
Dieser eine alte Film
Der Film, der dort lief, war so völlig anders als alle Astrid-Lindgren-Verfilmungen oder „Schloss Einstein“-Folgen, die ich mit meinen gerade mal neun Jahren bis dahin gesehen hatte. Der Film war schon damals über zwanzig Jahre alt und selbst bei seiner Kinopremiere hatte er erfolgreich mit der Nostalgie seiner Zuschauer gespielt.
So elegant gekleidete Menschen wie die Darsteller in diesem Film hatte ich mit meinen neun Jahren nicht mehr gesehen, seit meine Schwester die VHS-Kassette von „Titanic“ aus dem Geheimschrank meiner Eltern geklaut hatte. Auch in diesem Film verbrachten Herren in Smoking und Damen in Abendgarderobe viel Zeit auf einem Schiff und nicht alle sollten es wieder lebend verlassen.
Nur spielte dieser Film nicht im Nordatlantik sondern auf dem Nil und gestorben wurde durch Schüsse in fremde Schläfen, Schüsse in die eigene Schläfe oder zwischen die Augen und mittendrin auch an mal an per Skalpell durchgeschnittenen Kehlen. „Tod auf dem Nil“ war Programm.
Geheimnisvoll und gefährlich
Zum Glück sah ich den Film nicht von Anfang an, so blieb mir die etwas schwerfällig in Gang kommende Handlung mit ihren zuweilen kitschigen Anflügen erspart. Wir stiegen gleich im Tempel von Karnak mit dem aus lichter Höhe abstürzenden Felsklotz ein und die unheimlichen Gesänge im Tempel von Abu Simbel hielten die Spannung hoch.
Mit der Schießerei nach dem abendlichen Kartenspiel im Rauchersalon des luxuriösen Nildampfers ging es erst richtig los. Ich wollte unbedingt wissen, wer nach der Schießerei heimlich in den Salon geschlichen war und die Pistole unter dem Sofa hervorgeholt hatte, um noch in derselben Nacht die schöne Millionärserbin im Schlaf zu ermorden.
Völlig gebannt sah ich zu, wie der geistig alle überragende Meisterdetektiv einen Passagier nach dem anderen mit Unterstellungen überhäufte und die Regie ihn in seinen ehrabschneidenden Mutmaßungen unterstützte, indem sie in realen Szenen nachspielen ließ, was der Detektiv den Verdächtigen nachsagte. Zum Glück waren in diesem Film alle Passagiere verdächtig.
Den Namen des Detektives konnte ich mir nicht merken, aber später fand ich ihn auf dem Klappentext meiner Sammelausgabe aller drei „Kalle-Blomquist“-Bände die Wette, wonach der Junge aus Kleinköping, „bald in einem Atemzug mit Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Lord Peter Wimsey genannt wird?“ Der Mann in der Mitte musste es sein, wie auch immer der Name ausgesprochen wurde.
So avancierte diese Kreuzung aus einem belgischem Pedanten, Kriegsflüchtling und verkappten Tunte zu meinem Kindheitsidol.
Zeitreise und Weltenwechsel
Ich tauchte ein in eine Welt, in der Großbritannien über einen Nahen und Mittleren Osten wacht, derweil die Figuren mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Bombay über Bagdad bis nach Konstantinopel fahren und sich zwischendurch auf Bahnhöfen in Aleppo oder Kirkuk ohne Leibwächter und Schussweste die Beine vertreten.
Im Zweistromland einer Agatha Christie können Archäologen unbehelligt von ihren Grabungsstätten in die nächstgelegene Stadt und wieder zurück wandern. In Jordanien schlafen Touristen in der Felsenstadt Petra noch in unbewachten Zelten. Die Morde verüben die weißen Christen in diesen Ländern immer unter sich.
Agatha Christie
Durch Agatha Christie lernte ich den Nationalcharakter eines Tätervolkes kennen. Agatha Christie, geborene Miller, lebte von 1890 bis 1976 und hatte ihren ersten Ehemann Archibald Christie an Heiligabend des Jahres 1914 in dessen Fronturlaub geheiratet. Ihre Flitterwochen währten nur drei Tage, dann kehrte Archibald wieder in die Hölle von Nordfrankreich zurück.
Vier Jahre lang musste Agatha Christie täglich um ihren Archibald bangen, diente als Krankenschwester in Lazaretten und pflegte Archibalds Kameraden, welche die Vernichtungskraft der „Dicken Bertha“, der deutschen Flammenwerfer und Giftgase am eigenen Leib erfahren hatten. Auch im Zweiten Weltkrieg, längst die kommerziell erfolgreichste Schriftstellerin des Empires, wollte Agatha ihrem Vaterland nicht lediglich durch Geldspenden dienen und arbeitete erneut als Krankenschwester.
Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges rechnete Agatha Christie zunächst nicht damit, an der englischen Heimatfront in Lebensgefahr zu geraten, bis V-Raketen und Sturzkampfbomber am Himmel über London erschienen. Vor diesem Hintergrund muss jeder Deutsche Nachsicht mit Agatha Christie üben, wenn sie in ihren Büchern schwere Vorurteile gegen Australier schürt. Ob Erbschleicher, Urkundenfälscher oder gleich Mörder, in Agatha Christies Welt sind Australier niemals friedliebende Menschen.
Ze Germanz
Wir Deutsche kommen meistens noch als Trinker Franz, Zofe Hildegard oder Spion Doktor Bauerstein davon. Selbst der vor den kaiserlichen Heeren aus seiner belgischen Heimat nach England geflohene Hercule Poirot hält Doktor Bauerstein zugute, ein großer Patriot zu sein. Meisterdetektiv Hercule Poirot ist ein Kind des Schliefen-Plans, das verspricht, als Kriegsflüchtling nie jenen Schutz zu vergessen, den ihm sein Gastland in der Stunde der Not gewährte.
Bis heute bevorzuge ich Hörbuchleser und Synchronsprecher, die Hercule Poirot ausnahmsweise keinen übertriebenen französischen Akzent geben. Als ob ein polyglotter Weltbürger sich nicht assimilieren und die Hochsprache seines Gastlandes nicht sprechen könnte.
Miss Marple, die andere Meisterdetektivin aus der Feder Agatha Christies, hatte in ihren viktorianischen Kindertagen ein deutsches Fräulein als Erzieherin. Dieses Fräulein brachte den englischen Mädchen die deutsche Blumensprache bei, mit der ein kultivierter Kavalier seiner Angebeteten verschlüsselte Liebesbotschaften an der sauertöpfischen Anstandsdame vorbei übermitteln und die so Umworbene ihrem Verehrer, die sauertöpfischen Anstandsdame abermals umgehend, antworten konnte. Hallo Herr Steinmeier, hier spricht das beste Deutschland, das es jemals gab.
Es gibt eben solche und solche
Auch über andere Völker äußerte Agatha Christie gern ihre Ansichten. Im Kern unwidersprochen behaupten Hercule Poirots Helfer, Italiener seien Messerstecher und große Lügner. Der Kosmopolit Poirot gibt aber zu bedenken, der Mord im Orientexpress sei für ein südländisches Gehirn zu planvoll ausgeklügelt und erfordere ein kühleres, analytischeres Gehirn.
Kurzum ein nordisch-angelsächsisches Gehirn. Letztlich ist diese Schädelvermessung eine Quintessenz vieler Geschichten von Thomas Mann. Thomas Mann erhielt den Nob
elpreis, Agatha Christie den „Order oft the British Empire.“ Thomas Mann versprach in seiner Dankesrede, den Nobelpreis seinem Volke zu Füßen zu legen. Agatha Christie kommentierte ihre Auszeichnung mit: „Eins zu null für die Niedrig-Intellektuellen.“
Mörder, denen Poirot ihr schmutziges Handwerk legt, haben nie eine schwere Kindheit, nach ihrer Entlarvung aber „das Gesicht eines Mörders.“ Wenn die Blutlinie eine erbliche Schuld hergeben kann, machen Poirots Ermittlungen selbst vor pubertierenden Mädchen nicht Halt, wenn deren Mütter bereits wegen Mordes vor Gericht standen.
Traue keiner Frau!
Pünktlich zur Pubertät lehrte Agatha Christie mich, welchen Frauen außer jungen Australierinnen in hautengen Badeanzügen am heißen Strand von Gran Canaria ich ebenfalls nicht trauen durfte. Frauen in der Politik zum Beispiel. Frauen im Schuldienst.
Frauen, die gern im Gefängnis als Wärterin arbeiten. Resolute Frauen, die als Buchhalterinnen oder Sekretärinnen ihren männlichen Chefs den Marsch blasen und somit, aus dem Hintergrund die Fäden ziehend, selbst zu den wahren Chefinnen großer Konzerne werden.
Anständige Frauen arbeiten im Agatha-Christie-Universum oft als Krankenschwester, Friseurin oder Köchin und sind vielleicht nicht sonderlich belesen, aber lebensklug wie jene Mädchen für Alles aus Agatha Christies eigener Lebenserfahrung, die nach jedem Marktbesuch der Schriftstellerin seufzten: „Ach Agatha, Sie haben sich ja schon wieder das älteste Gemüse andrehen lassen.“
Der Kassenschlager
Als wir in der Schule unser Lieblingsbuch vorstellen sollten, wollte ich eigentlich von der spannendsten und meistverkauften Geschichte der „Queen of Crime“ erzählen. Meistverkauft bedeutet in Agatha Christies Fall, das am häufigsten über den Ladentisch gegangene Buch in einer Gesamtauflage von über zwei Milliarden Exemplaren zu sein. Dagegen wirkt selbst Frau Christies Landsmännin Enid Blyton mit ihren über sechshundert Millionen verkauften Büchern flachbrüstig.
Von der Meistverkaufenden meistverkauft hat sich bis heute die Geschichte von den zehn davon gekommenen Mördern, die der unbekannte U. N. Owen für ein Wochenende auf seine Insel lockt. Kaum schneidet ein Sturm die Gäste des unbekannten U. N. Owen vom Festland ab, beginnt eine Mordserie nach den Vorgaben eines Kindergedichts, derweil nach jedem Tod eine von zehn Porzellanfiguren unbemerkt aus dem Speisezimmer verschwindet.
Leider heißt die stürmische Insel „Neger-Insel“, weil ihre Klippen vom Festland aus „wie gewaltige Schwulstlippen“ anmuten. Die Porzellan-Figuren sehen wie „Negerlein“ aus, auf der Suche nach dem mörderischen U. N. Owen bezichtigen sich seine weißen Gäste gegenseitig, ein „falsches Negerlein“ zu sein. Und der Abzählreim zur totalen Ausrottung der weißen Gäste mit krimineller Vergangenheit trägt den Titel
„Zehn kleine Negerlein“ und macht Späße wie „Sieben kleine Negerlein, die gingen zu `ner Hex`, eines traf ihr Hackbeil, da waren’s nur noch sechs“ oder „Fünf kleine Negerlein gingen zum Polizeirevier, eines traf den Scharfrichter, da waren’s nur noch vier.“ …
Am Ende entschied ich mich, doch lieber „Die Morde des Herrn ABC“ mit Trinker Franz vorzustellen.
Her mit dem Rotstift!
Wer mit so einem Weltbild zwei Milliarden Mal hausieren geht kann nicht erwarten, den Zensoren des Zeitgeistes zu entrinnen. Die „Zehn kleinen Negerlein“ tragen heute den Titel „And then there were none“ („Und dann gab‘s keines mehr“), dem letzten Vers des morbiden Abzählreims, der in die US-amerikanischen Verlage übrigens schon 1940 verwendeten.
Die Porzellanfiguren und das Gedicht hießen in den USA zwischenzeitlich „Ten little Indians“, was Kinder aus indigenen Familien garantiert davon abhielt, eine Universität zu besuchen oder eine Anstellung im öffentlichen Dienst zu finden. In einer deutschen Übersetzung las ich die Umbenennung in „Zehn kleine Zinnsoldaten“, die der Grund für den Aufstieg der AfD gewesen sein muss. In jedem Fall besteht hier aus identitätspolitischer Schneeflöckchen-alles-bloß-nicht-Weißröckchen-Perspektive noch dringender Nachbesserungsbedarf.
Übrigens: Den in „Und dann gab’s keines mehr“ am Rande erwähnten Juden namens Isaac Morris, der sehr gut mit Geld umgehen kann und in seiner Freizeit unbescholtene Mittelstandsmädchen zum letalen Drogenkonsum verführt, beanstandeten die diversen Neo-Jakobiner bisher nicht.
Die BBC bei der Arbeit
Dankenswerterweise hat die BBC seit 1989 sämtliche Romane und Kurzgeschichten mit Hercule Poirot verfilmt und in David Suchet einen hervorragenden Hauptdarsteller gefunden, der den belgischen Meisterdetektiv mit den kleinen grauen Zellen viel romangetreuer verkörpert als der barockere und eher sich selbst spielende Sir Peter Ustinov, welcher mich als Kind in der „Tod auf dem Nil“-Fassung von 1978 mit seinem kongenialen Kameraden David Niven begeisterte.
Ansonsten gibt die BBC sich alle Mühe, die Agatha-Christie-Welt von der Heterosexualität zu erlösen. Ungefähr ab dem Jahr 2000 drehte die BBC immer weniger Verfilmungen, in denen nicht irgendein total diskriminierter Nebencharakter entgegen der Romanvorlage schwul ist.
Was sich in der Verfilmung von „Das unvollendete Bildnis“, der bis heute besten Agatha-Christie-Verfilmung überhaupt, noch organisch in die Handlung einfügt, zum betroffenen Charakter sogar ganz gut passt und für die Lösung des Rätsels unerheblich ist, wächst sich spätestens in „Mit offenen Karten“ zur wenig subtilen Volkspädagogik aus.
In einer Verfilmung von „Die Tote in der Bibliothek“, des meiner Meinung nach besten Miss-Marple-Krimis, ändern die BBC-Autoren sogar die Identität des Täterpaares, um auf Biegen und Brechen irgendwelche Lesben in die Handlung einzubauen.
Mord im Zeitgeistexpress
Die Neuverfilmung von „Mord im Orientexpress“ aus dem Jahr 2017 beschreitet hinsichtlich der Hauptfigur einen neuen Weg. Hercule Poirot, dargestellt vom fehlbesetzten Kenneth Branagh, sieht wie ein Barkeeper in einem Wild-West-Salon aus, hat Weibergeschichten und prügelt sich mit seinen Verdächtigen. Ich will meinen Etepetete-Poirot wieder haben!
Ansonsten meine ich mich zu erinnern, auch wieder schwule Nebenfiguren gesehen zu haben, als ich im Kino zwischenzeitlich wieder aufwachte. Schon in der ersten Viertelstunde belästigt der Film sein zahlendes Publikum mit einer für die spätere Handlung vollkommen unwichtigen Ring-Parabel für Arme, in der ein Rabbiner, ein Pfarrer und ein Iman zu Unrecht unter Verdacht stehen, irgendeine Straftat begangen zu haben und dabei doch alle gleichermaßen unschuldig und Vertreter toleranter Friedensreligionen sind.
Für das Jahr 2021 ist eine Neuverfilmung von „Tod auf dem Nil“ mit Kenneth Branagh angesetzt. Zugegeben, wäre ich Ägypter, fühlte ich mich durch die Dars
tellung des einheimischen Chefstewards aus der Erstverfilmung mit Sir Peter Ustinov auch in meiner nationalen Ehre gekränkt. Die Neuverfilmung wird sich dafür wahrscheinlich am westlichen Publikum rächen.
Dieses Jahr erblickte ich in einer Buchhandlung eine neue Gesamtausgabe der drei „Kalle-Blomquist“-Bücher. Der Klappentext enthielt keine Hinweise mehr auf die Herren Sherlock Holmes, Hercule Poirot und Lord Peter Wimsey, denen der Junge aus Kleinköping nacheifern soll.