Vergangene Woche wurde unter der Schirmherrschaft der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) zu einem Atomgipfel in Belgien geladen. Rund 30 Länder nahmen mit hochrangigen Vertretern, darunter zahlreiche Staats- und Regierungschefs, an der Konferenz in Brüssel teil und unterzeichneten eine Erklärung. Das Ziel: der Aufbau einer internationalen Atom-Allianz. Die Staaten wollen in den kommenden Jahren die Kernenergie in ihren Ländern weiter ausbauen. Damit war der Atomgipfel eine formellere Fortsetzung einer ersten informellen Erklärung auf der UN-Klimakonferenz in Dubai. Zur Überraschung zahlreicher deutscher Medien hatten sich vergangenen Dezember bereits 20 Staaten zusammengefunden und zugesagt, ihre Kernenergie bis 2050 zu verdoppeln.
Jetzt nimmt die Ausgestaltung dieser Gruppe weiter Form an, und die Liste wird länger. Insgesamt 15 europäische und 17 weitere bedeutende Staaten aus der ganzen Welt nahmen an dem Kongress teil: Neben den asiatischen Ländern Südkorea und Japan, das nach „Fukushima“ längst wieder auf Kernenergie setzt, sind mittlerweile auch China und Indien dazugestoßen. Ebenso nahm das 230-Millionen-Einwohner-Land Pakistan sowie der wirtschaftlich florierende Pantherstaat der Philippinen an der Konferenz teil. Russland setzt ebenfalls verstärkt auf Kernkraft, die Abwesenheit beim Treffen hatte demnach politische Gründe. Mit den USA, Kanada und Argentinien waren zudem die wichtigsten Volkswirtschaften des amerikanischen Kontinents vertreten. Insgesamt sprachen die Vertreter für mehr als vier Milliarden Menschen sowie für mehr als 60 Prozent der Weltwirtschaftsleistung.
Auch bezeugt der Blick auf die 15 europäischen Teilnehmerstaaten, dass es in Europa längst eine Mehrheit für Kernenergie gibt. Dazu kommen Italien, Polen und Serbien, die zwar noch keine eigenen Anlagen betreiben, aber in Zukunft auf Kernenergie setzen wollen. Sogar die Türkei und Ägypten nahmen am Gipfeltreffen teil. Beide Staaten bauen an ihrem ersten Kernkraftwerk. Besonders interessant: Mit der Teilnahme des Gastgeberlandes Belgien ist der lange anvisierte Atomausstieg des Landes Geschichte. Der belgische Premierminister Alexander De Croo verkündete offen den Ausstieg aus dem Atomausstieg. Kernkraft soll wieder ein wichtiger Teil des eigenen Energiemixes werden.
Klimaschutz als Startschuss für Kernkraft
Der Ursprung dieser europäischen Kehrtwende liegt im Juni 2022: Die Europäische Kommission hatte – gegen den Widerstand Deutschlands – Kernenergie als grüne und damit saubere Energie eingestuft. Der für die Deutschen und Österreicher überraschende Vorstoß war die realpolitische Konsequenz vor allem eines Sachverhalts: des Sichversteifens auf eine überambitionierte CO2-Reduktion, die über Wind- und Sonnenenergie langfristig und vor allem zuverlässig nicht zu erreichen ist.
Mit der Verteufelung von CO2 unter deutscher Führung hat sich die europäische Politik der letzten zwei Jahrzehnte in eine Sackgasse manövriert, aus der nur die Kernkraft heraushelfen kann. Wurde 2022 die Klassifizierung der Kernenergie als „grün“ noch gegen eine Mehrheit von 14 von 27 EU-Staaten durchgesetzt, hat sich in weniger als zwei Jahren das Kräfteverhältnis weiter verschoben: Mit der Kehrtwende Schwedens und Belgiens wollen auch diese ursprünglichen Wackelkandidaten bei der Kernkraft bleiben, und mit dem geplanten Einstieg Italiens und Polens sind die Mehrheitsverhältnisse abschließend geklärt. Der Block der Länder, die auf die Hochtechnologie verzichten wollen, schrumpft weiter.
Das fällt vor allem dann auf, wenn die EU-Staaten herausgerechnet werden, die über gar keine Kernkraftwerke verfügen, wie Portugal, Österreich, Dänemark, Luxemburg, Lettland oder Estland. Welche EU-Länder entscheiden sich trotz eigener Kernkraftwerke gegen Weiterbetrieb und Ausbau? Da bleiben nur Deutschland und Spanien. Letzteres betreibt noch sieben Reaktorblöcke und hat einen sehr langsamen Ausstiegsplan vorgesehen. Erst 2035 sollen alle spanischen AKWs vom Netz sein. Es ist demnach wahrscheinlich, dass Spanien diese Pläne in Anbetracht der energiepolitischen Kehrtwende noch einmal überdenken wird.
Deutschland, der bockige Vorschüler
Damit bleibt Deutschland, neben der Schweiz, möglicherweise das einzige europäische Land mit nuklearen Energiekapazitäten, das weiterhin am Ausstieg beziehungsweise am Ende der Kernkraft festhalten will. Die energiepolitische Isolation Deutschlands wäre im Falle einer anstehenden EU-Förderung besonders tragisch: Als Hauptgeberland würde Deutschland die neuen Kernkraftwerke seiner Nachbarn bezahlen und wäre gleichzeitig auf Energieimporte angewiesen. Hoffnung machen könnte ein Ende der Ampel-Regierung sowie ein gewisser europäischer Druck auf Deutschland, der den Wiedereinstieg in die Kernkraft begünstigen könnte.
Auch mit Blick auf die internationale Staatenwelt ist die Haltung Deutschlands die eines bockigen Vorschülers. Der beeindruckende Nebeneffekt des Atomgipfels war diplomatischer Natur: Denn es ist sehr selten, dass sich derartig hochrangige Politiker der wichtigsten Staaten der Welt an einem Tisch treffen. Jenseits des förmlichen G20-Gipfels und des Jahrmarkt-Charakters der jährlichen Klimagipfel mit vielen Tausend Teilnehmern konnten hier ungestört Spitzenpolitiker Japans, Chinas, Indiens, der USA, Frankreichs und Großbritanniens miteinander sprechen und die Zeichen auf Kooperation stellen. Vielleicht entpuppt sich Deutschlands Trotzhaltung aber auch als Glücksfall: Annalena Baerbock hätte mit einer Teilnahme vielleicht noch größeren Schaden angerichtet.