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China, der Westen und die Menschenrechte

18. August 2021
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China und Menschenrechte? Ein Witz, werden hierzulande die meisten wohl sagen und angesichts der unzähligen Berichte in den Mainstream-Medien an Orwells und Huxleys Dystopien denken. Doch das neue Weißbuch, das das Pressebüro der chinesischen Regierung am 12. August veröffentlichte, ist alles andere als ein Witz.

Der, zugegeben, äußerst umständliche Titel lautet „Umfassende Vollendung des Aufbaus der Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand: Glänzendes Kapitel der chinesischen Menschenrechts-Entwicklung“. Parteichinesisch? Ohne Frage. Gleichwohl wird hier nicht nur Chinas vom westlichen Verständnis völlig abweichende Interpretation der Menschenrechte deutlich.

Die Idee der Menschenrechte ist westlich

Die ursprüngliche Vorstellung derartiger Rechte entstammt europäischer Denktradition und soll primär das Individuum vor der Willkür des Staates schützen. Erstmals 1948 wurden diese Prinzipien in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von den Vereinten Nationen festgelegt. Damals jedoch gehörte die Volksrepublik nicht der UNO an, während die meisten Staaten der Dritten Welt noch gar nicht existierten, sondern von ihren westlichen Kolonialherren erst viel später die Unabhängigkeit und damit die Voraussetzung für die Realisierung der vielbeschworenen Rechte erkämpften.

Im Jahr 1966 einigte sich die UNO auf zwei Vertragstexte, mit denen die Menschenrechte entscheidend erweitert, kodifiziert und verpflichtend geregelt werden sollten. Sie traten 1976 in Kraft und sind inzwischen von fast allen Mitgliedsstaaten, auch von China, ratifiziert worden. Während der erste Pakt die politischen und bürgerlichen Individualrechte festlegt, werden im zweiten Pakt Kollektivrechte in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Kultur verankert – so das Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit, auf Gesundheit, den Schutz der Familie sowie auf Bildung.

Chinas Regierung kann für sich in Anspruch nehmen, für ein Volk, das 1949 noch zu achtzig Prozent aus Analphabeten bestand und Hunger litt, die elementaren Menschenrechte erfüllt zu haben, ohne die ein Leben in Würde überhaupt nicht vorstellbar ist. Aus diesen Leistungen bezieht die KP, die die Volksrepublik im Bürgerkrieg gegen die Militärdiktatur Tschiang Kai-scheks erkämpft, 1949 gegründet und bis heute zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt entwickelt hat, ihre von der Mehrheit der Bevölkerung bislang unbestrittene Herrschaftslegitimation.

Erst Wohlstand, dann der Rest

Auf die obligatorische Frage der Zeit, wann es denn in China endlich mit Demokratie und Menschenrechten vorangehe, antwortete im Februar 2010 Li Er, einer der bekanntesten chinesischen Schriftsteller: „Es gibt in unserer Gesellschaft einen Konsens darüber, daß zunächst wirtschaftlicher Wohlstand geschaffen werden soll und es dann erst um die Ausweitung der bürgerlichen Freiheiten gehen kann. China braucht Stabilität, damit noch viel mehr Menschen am wirtschaftlichen Wohlstand teilhaben können. Viele Menschen im Westen sind einfach zu ungeduldig mit China.“

Als Xi Jinping im November 2012 das Amt des Parteichefs übernahm, ließ er über alle Medien seine Zukunftsvision verkünden – den „Traum von der Wiedergeburt der chinesischen Nation“. Dieser Traum solle in zwei Etappen Wirklichkeit werden: Der erste Schritt sei die Beseitigung der absoluten Armut und der „Aufbau einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand“; dieser Prozeß, so versprach Xi, werde bis zum 100. Gründungstag der KP (1. Juli 2021) abgeschlossen sein. Der zweite Schritt sei die „Vollendung des Aufbaus eines modernen sozialistischen Landes, das reich, stark, demokratisch, zivilisiert und harmonisch ist“; diese Etappe soll zum 100. Gründungstag der Volksrepublik (1. Oktober 2049) erreicht werden.

Dem eingangs zitierten Weißbuch zufolge haben Partei und Regierung das erste ihrer beiden Jahrhundert-Versprechen termingerecht eingehalten. Dies, heißt es, markiere einen neuen Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Menschenrechte – ein Konzept, das Li Er seinen Gesprächspartnern seinerzeit vergeblich nahezubringen versuchte. Doch nicht nur Zeit-Redakteure, fast alle westlichen Beobachter beharren auf dem Vorrang der Individualrechte und beschuldigen China permanent der schlimmsten Vergehen. Aber es hilft nichts – nicht sie, sondern Peking liegt richtig.

Ein Deckel passt nicht auf alle Töpfe

Im deutschsprachigen Raum ist der Schweizer Jurist und Sinologe Harro von Senger einer der wenigen, die sich um ein differenziertes Bild bemühen. In seiner 2013 veröffentlichten Abhandlung „Die VR China und die Menschenrechte“ (als PDF abrufbar) konstatiert er: „Von der Erklärung der Menschenrechte von 1948 angefangen bis zur Schlußerklärung der Wiener Menschenrechts-Weltkonferenz von 1993 läßt sich bis zur Gegenwart aus den einschlägigen UNO-Verlautbarungen keine Hierarchie von Menschenrechten herausinterpretieren.“

Daher lehne China eine Ignorierung ganzer Kategorien ab – eine Ausgrenzung, die sich auf die euro-amerikanische These eines sogenannten harten Kerns von Menschenrechten stütze. Die Volksrepublik bekenne sich vielmehr zum Grundsatz der Unteilbarkeit und der wechselseitigen Abhängigkeit aller Menschenrechte und betrachte zum Beispiel das Recht auf Entwicklung, das Recht auf Nahrung und das Recht auf Arbeit als genauso vollgültig wie irgendein anderes.

Auf zwischenstaatlicher Ebene sind die von Peking stets verfochtenen Prinzipien der nationalen Souveränität und der Gleichheit aller UNO-Mitgliedsstaaten sowie der Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten nicht nur in der UNO-Charta, sondern in vielen neueren Dokumenten der Vereinten Nationen verankert.

Harro von Senger weist auch darauf hin, daß es aus Sicht der UNO kein einzelnes politisches System gibt, das für alle Nationen und Völker in gleicher Weise geeignet ist, da jedes System unterschiedlichen historischen, kulturellen und religiösen Faktoren unterworfen ist. Daraus ergebe sich, daß westliche Formen der Demokratie nicht die einzig gültigen sind. Die UNO-Menschenrechtkommission habe daher am 23. April 2003 mit 29 gegen zwölf Stimmen bei zwölf Enthaltungen eine entsprechende Resolution verabschiedet: „There is no universal model of democracy.“

Alternative zu Menschenrechten

Aus all dem geht hervor, daß Menschenrechte weder überzeitlich noch überörtlich sind. Trotz ihres supranationalen Anspruchs werden sie in Einzelstaaten zur Geltung gebracht, die wiederum das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv immer wieder neu bestimmen müssen. So gibt der französische Philosoph und Sinologe François Jullien zu bedenken, während die europäischen Menschenrechte auf dem Gedanken der Freiheit des Individuums, seiner Loslösung von der Gesellschaft, beruhten, hätten die Chinesen das Konzept der „Harmonie“ entwickelt.

Es suggeriere nicht die Abtrennung des Menschen, sondern seine Integration in den Kosmos, die Natur, die Familie und in den Staat. Hieraus resultieren Werte und Verhaltensmuster, die seit Jahrhunderten den gesamten ostasiatischen Raum prägen und zu einem ganz anderen Denken als im Westen geführt haben.

Als entscheidende Unterschiede nennen Sinologen wie der Deutsche Thomas Heberer: Kollektiv- statt Individualbezogenheit; Gruppen- vor Eigeninteresse; hoher Rang persönlicher Beziehungen; Harmoniebedürfnis und Konsens statt Konflikt und Wettbewerb; politische hierarchische Strukturen mit vertika
len Entscheidungsmustern; familienorientiertes Verhalten; Erziehung vor Bestrafung; Vorrang von Ethik und Moral vor dem Recht; spezifische Werte der Wirtschaftsgesinnung wie Fleiß, harte Arbeit, Sparsamkeit, Selbstdisziplin, Gehorsam und Ausdauer.

Das im Vergleich zum Westen andere Verständnis vom Wechselverhältnis zwischen Regierung und Volk sowie von der Rolle des Staates hat somit zu gravierenden Unterschieden auch in der politischen Kultur geführt – die ostasiatischen Vorstellungen von Ordnung, Macht, Autorität und Hierarchie begünstigen eher autoritäre als westlich-demokratische Strukturen.

Der Westen setzt keine Maßstäbe mehr

Wer, wie der Autor, seit nunmehr fünfzig Jahren die Entwicklung Chinas und deren Widerspiegelung in den hiesigen Medien verfolgt, kann über den Niedergang der Berichterstattung nur den Kopf schütteln. Zwar wurde in den Siebzigern bis hinein in die frühen Neunziger Jahr für Jahr der baldige Zusammenbruch des Regimes prophezeit, aber im großen und ganzen war die Pressearbeit noch um Objektivität bemüht.

Als sich entgegen aller Erwartung Chinas Aufstieg zu einer auch ökonomischen Weltmacht abzeichnete, ließen die meisten Berichterstatter jedoch alle Zurückhaltung fallen. Die erste Regel für Redakteure und Korrespondenten, die strikte Trennung von Nachricht und Kommentar, wurde besonders in den linksliberalen Medien durch einen Haltungsjournalismus ersetzt, der die „westlichen Werte“ zum alleinigen Maßstab macht. Neutrale Nachrichten und faire Berichterstattung sind seit langem obsolet.

Eine Dämonisierung der Volksrepublik, ein permanentes China-Bashing, gespeist aus Halbwahrheiten und Unterstellungen, füllt nunmehr Spalten und Sendezeiten. Wie lückenhaft und damit einseitig berichtet wird, zeigen besonders die Beispiele Taiwan, Hongkong und Xinjiang Erster Höhepunkt der Kampagne aus Hetze, Haß und Häme waren 2008 die Olympischen Sommerspiele in Peking. Damals mahnte selbst ein den liberalen Leitmedien Wohlgesinnter wie Münchens SPD-Oberbürgermeister Christian Uhde zum Innehalten: „Es muß uns klar sein, daß unsere Ansprüche an Menschenrechte und Demokratie nur von einer Minderheit der Regierungen in der Welt mitgetragen werden.“

Doch bereits im kommenden Februar, wenn in Peking die Olympischen Winterspiele eröffnet werden, dürfte sich das mediale Trauerspiel wiederholen. Vor zehn Jahren, im Juli 2010, hatte Vize-Außenministerin Fu Ying Redakteure der Zeit gewarnt – vergeblich: „Wenn Sie China immer an Ihren Maßstäben messen, und wenn Sie erwarten, China werde eines Tages wie der Westen sein, dann wird diese Hoffnung Sie immer wieder trügen. Sie sollten jedenfalls nicht glauben, daß alle in China ohne Gehirn herumlaufen – 1,3 Milliarden Menschen.“ Mittlerweile sind es bereits 100 Millionen mehr.

Selbst das unsägliche Afghanistan-Debakel dürfte die USA und ihre westlichen Trabanten keines Besseren belehren. Seit Anfang August sind Kriegsschiffe aus Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland auf der Fahrt ins Südchinesische Meer, um dort – wie Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bei der Verabschiedung der Fregatte Bayern in Wilhelmshaven verkündete –, „Flagge für unsere westlichen Werte“ zu zeigen. „Gute Reise!“ möchte man da wünschen.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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