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Das Christentum wird Europa nicht retten

13. Juli 2021
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Angesichts des dramatischen Werteverfalls und vor dem Hintergrund der islamischen Herausforderung setzen viele Konservative – so der Historiker David Engels („Renovatio Europae“, 2019) – ihre Hoffnung auf eine Re-Chistianisierung der europäischen Gesellschaften. Doch auch wenn mancherorts, ungeachtet der Mißbrauchsfälle, eine neue Sehnsucht nach dem Religiösen sichtbar geworden ist, dürfte jene Hoffnung vergebens sein.

Seit der Trennung von Kirche und Staat hat das Christentum im aufgeklärten Europa als relevanter Machtfaktor ausgespielt. Es sind nicht nur die intellektuellen Absurditäten wie Erbsünde-Lehre, Jungfrauen-Geburt und leibliche Auferstehung, an denen die christliche Konfession gescheitert ist, vielmehr richten sich die Einwände der Vernunft seit der Antike gegen den Mythos eines Gottes, der wie ein orientalischer Zauberer das Universum aus dem Nichts geschaffen haben soll.

Und Gott versohlte Epikur den Hintern

So fragte bereits Epikur (340-270 v. Chr.), weshalb sich jener Erbauer der Welt plötzlich ans Werk gemacht habe, nachdem er während ungezählter Äonen untätig gewesen sei. Habe er bis dahin die Arbeit gescheut? Sei ihm auf einmal langweilig geworden? Oder habe er alles nur für die Menschen getan – für Wesen also, die noch gar nicht existierten?

Hierauf wußte Martin Luther lediglich zu erwidern: „Gott ist in den Wald gegangen, um sich eine Rute zu schneiden, mit der er jene verdreschen kann, die derartige Fragen aufwerfen.“

Und auch der Kirchenvater Augustinus vermochte in seinen Confessiones keine schlüssige Antwort zu geben: „Ich sage mit Zuversicht: Bevor Gott Himmel und Erde machte, machte er nichts. Denn wenn er etwas machte, was machte er, wenn nicht ein Geschöpf? (….) Alle Zeiten hast Du gemacht. Vor allen Zeiten bist Du, und man kann nicht von irgendeiner Zeit sprechen, wenn keine Zeit war. Es gab also keine Zeit, in der Du nichts gemacht hättest, denn Du hast die Zeit selbst gemacht.“

Ausgehend von der Prämisse einer göttlichen „Schöpfung aus dem Nichts“ (creatio ex nihilo), stellte sich schon in der Antike das Theodizee-Problem, also die Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt. Auch diese Frage hatte Epikur aufgeworfen: Wenn der Schöpfergott das Übel nicht verhindern könne, sei er nicht allmächtig; wenn er es aber nicht verhindern wolle, sei er nicht alliebend.

Was will Gott?

Während der Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004, die mehr als 200.000 Todesopfer forderte, konnten die Repräsentanten der christlichen Konfessionen – wie schon 1755 beim Erdbeben von Lissabon – ihre Ratlosigkeit kaum verbergen. Der Glaube lehre, daß Gott die Menschen auch in den schwersten und schmerzhaftesten Prüfungen niemals alleinlasse, erklärte der seinerzeitige Papst Johannes Paul II. Im Weihnachtsgeschehen sei Gott zu den Menschen gekommen, um ihre Existenz zu teilen. Christi Liebesgebot sei als seine Botschaft die Basis für die Hoffnung auf eine bessere Welt.

Nicht viel erbaulicher waren die Worte des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber: „Auch ich habe mit der Frage gerungen, wie Gott den Tod so vieler Menschen zulassen konnte. Ich kann es nachempfinden, wenn Menschen in einer solchen Lage zweifeln, ja verzweifeln. Aber ich glaube fest, daß Gott nicht den Tod, sondern das Leben will. Und doch ist der Tod noch ein Teil dieser nicht erlösten Welt. Aber er hat nicht das letzte Wort. Ich vertraue darauf, dass die Opfer dieser Flutkatastrophe bei Gott gut aufgehoben sind.“

Die ganze Hilf- und Ratlosigkeit offenbarte Joseph Kardinal Ratzinger am 24. April 2005 in seiner Inaugurationsrede als Papst Benedikt XVI.: „Wie oft wünschten wir, daß Gott sich stärker zeigen möge, daß er dreinschlagen würde, das Böse ausrotten und die bessere Welt schaffen!“

Die Hoffnung auf eine „bessere Welt“, da die gegenwärtige noch „nicht erlöst“ sei – hierin zeigt sich der Dualismus der monotheistischen Religionen, der zu verhängnisvollen Entwicklungen geführt hat. Während das Christentum in West- und Mitteleuropa nach verheerenden Religionskriegen, nach Inquisition, Kreuzzügen und Ketzerverbrennungen mittlerweile zur
Privatangelegenheit unter staatlichem Schutz herabgestuft wurde, zeigen evangelikale Fundamentalisten in den USA und islamistische Kämpfer, welche Kraft nach wie vor in einer globalen Glaubensmission steckt.

Es begann mit den Vorsokratikern

Die Etiketten „links“ und „rechts“, „progressiv“ und „konservativ“ sind zwar jüngeren Datums, doch im Grunde beinhalten sie ein geistiges Ringen, das – avant la lettre – das abendländische Denken seit mehr als 2.500 Jahren beschäftigt. In dieser Auseinandersetzung, die sich bis auf den heutigen Tag als eine Art geistiger Bürgerkrieg in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verfolgen läßt, geht es – bewußt oder unbewußt – um nichts Geringeres als um das allem Handeln und Denken zugrunde liegende Welt- und Menschenbild.

Der große Bruch setzte mit Platon (437-347 v. Chr.) ein. Bis dahin dominierte im Abendland die Naturphilosophie der ionischen Vorsokratiker, die in der Erkenntnis gipfelt, daß das Universum ungeschaffen, allumfassend, ewig und unendlich sei – eine Erkenntnis, die auch durch die spekulative Urknall-Theorie nicht widerlegt ist, bleibt doch die Frage offen, was vor dem Urknall war. Die einfachste Antwort der Vorsokratiker auf die erste aller Fragen: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ lautet nämlich: „Weil von nichts nichts kommt, ist ewas.“ Eine creatio ex nihilo scheidet somit wie ein „Urknall“ als vernunftwidrig aus.

Die Welt ohne Anfang und ohne Ende, also ohne Erst-Ursache und ohne End-Zweck, mithin die ewige Wiederkehr als naturhafter Prozeß, der sich nur mit verschiedenen Darstellern und in wechselnden Kostümen vollzieht – das ist die Idee von der Einheit der Natur, von der Vollkommenheit und Notwendigkeit des Daseins, in der das „Böse“ wie das „Gute“ sein Recht hat. Alles Sein, so der Kerngedanke der Vorsokratiker – die man als Begründer der „ewigen Rechten“ bezeichnen könnte –, muß einen gemeinsamen Ursprung haben.

Hinter dem Wechsel der Erscheinungen, wie ihn das Leben der Natur in Sommer und Winter, Blühen und Verwelken, Geburt und Tod zeigt, steht ein allen Dingen gemeinsamer, unzerstörbarer, in seinem innersten Wesen unveränderlicher Urgrund (arché).

Dieser Urstoff – in tausendfältiger Wandlung begriffen (Heraklit, ca. 540-480 v. Chr.) – bringt alles aus sich hervor und verursacht so den ewigen Wandlungsprozeß. Man kann die vorsokratische Erkenntnis auf eine prägnante Weltformel bringen: „Eins ist alles – alles fließt.“

Europas eigene Religion

In Wahrheit ist diese vor 2.500 Jahren entwickelte Idee des Universums als Perpetuum mobile Europas „eigene“ oder „andere Religion“ (Sigrid Hunke). Sie ist vielfach variiert worden – als Monismus oder Unitarismus, als Pantheismus oder als Holismus. Zu ihren Verfechtern gehörten Pelagius und Meister Eckart, Nikolaus von Kues und Giordano Bruno, Spinoza, Lichtenberg und Hölderlin, Goethe, Nietzsche und Teilhard de Chardin.

Im Zentrum ihres Denkens stand dabei stets die Überzeugung, daß es keine Materie ohne Geist, keinen Geist ohne Materie, daß es keinen Inhalt ohne Form und keine Form ohne Inhalt, keine Bewegung ohne Materie und keine Materie ohne Bewegung gibt – kurz, daß der Kampf und die Einheit der Gegensätze oder Widersprüche die Dialektik des Lebens selbst bedeuten, wobei die Einheit als Gleichgewi
cht und Ruhe nur temporär und relativ, der Kampf aber dauerhaft ist.

Das „Absolute“, das „Ewige“ sind aus dieser Perspektive lebensverneinende Vorstellungen und künstliche Ideale; Begriffe wie „ewige Seligkeit“, „ewiges Leben“ oder „ewiger Frieden“ sind Synonyme für den Tod. Wer derartige Ziele anstrebt, will das ständig fließende „Alles“ zum Stillstand bringen und durch die Aufhebung aller Gegensätze und Widersprüche das „Ende der Geschichte“ herbeiführen: Wo „Alles“ ist, soll „Eins“ werden – sei es die ewige paradiesische Ruhe als Erlösung im Jenseits, sei es das Konzept der klassen- und staatenlosen Globalgesellschaft als Erlösung im Diesseits.

Im Gegensatz zu diesem linearen Denken, das die menschliche Geschichte als göttlichen Heilsplan oder als Selbstermächtigung zu einem unaufhaltsamen „Fortschritt“ begreift, steht das zyklische Konzept der Vorsokratiker. Vom Sein (Ursprung, Urstoff, „Gott“) ins Seiende (Geburt, Individuation) und vom Seienden durch den Tod zurück ins Sein – das ist der ewige Kreislauf des „Eins ist alles, alles ist eins“.

Da das Universum allumfassend ist, kommt nichts hinzu und nichts verschwindet; das zeitliche Leben kehrt in den Schoß des Ewigen zurück, um von dort irgendwann – neu verwandelt – wieder ins Zeitliche zu treten. Schopenhauer sagt: „Wir werden nach dem Tod das und dort sein, was und wo wir vor der Geburt waren.“

Platon, Urvater der Linken

Im europäischen Denken hat Platon diese Einheit der Natur gesprengt, indem er der konkreten Wirklichkeit den abstrakten Himmel der Ideen als eine zweite, als eine „bessere Welt“ gegenüberstellte. Dieser Dualismus, der Körper und Seele, Materie und Geist wieder auseinanderriß und die Gegenwart zugunsten einer erträumten Zukunft abwertete, ist seitdem die Grundlage des Denkens der „ewigen Linken“ – ob im religiösen oder im säkularen Gewand.

Für alle Marx-Jünger hat Ernst Bloch die ins Weltliche gekehrte missionarische Erlösungsgläubigkeit idealtypisch ausgedrückt: „Ubi Lenin, ibi Jerusalem“ („Wo Lenin ist, da ist Jerusalem“) – und das noch zu einer Zeit, als die Schrecken der stalinistischen Gulags längst bekannt waren. Die eschatologischen Kreuzzüge der Ewigmorgigen waren und sind stets durch eine breite Blutspur gekennzeichnet.

Vom mittelalterlichen Christentum war bereits die Rede; jetzt versuchen islamische Dschihadisten, die Welt in eine große „Umma“ zu verwandeln. Millionen von Toten forderte der Klassen-Messianismus des Marxismus, zu dessen erbittertem Widerpart sich der Nationalsozialismus entwickelte, dessen Rassen-Messianismus in einem Völkermord zur „Erlösung des arischen Blutes“ gipfelte.

Nicht in der Rechristianisierung liegt die Hoffnung

Seit dem Ende des Kalten Krieges ist es, unterbrochen durch das Trump-Intermezzo, der von US-Präsident Biden wieder beschworene westliche Liberalismus, der mit militantem Demokratie-Export, Interventionskriegen im Zeichen der „Humanität“ und einem arroganten Menschenrechts-Imperialismus die Welt nach seinem Muster formen möchte.

Das manichäische Weltbild, das allen dualistischen Konzepten zugrunde liegt, moralisiert die Frage nach „richtig oder falsch“ zu einer nach „gut oder böse“; es entmenschlicht seine jeweiligen Feinde und verwandelt kriegerische Auseinandersetzungen in Kreuzzüge, bei denen es keine ehrenhaften Friedensschlüsse mehr gibt.

Wer als Konservativer die Rückbesinnung auf Europas wahre Werte erhofft, sollte daher nicht von einer Re-Christianisierung träumen. Was not tut, ist vielmehr eine zweite Renaissance als Wiederentdeckung des antiken Denkens. Auch wenn angesichts des Erstarkens des Islams und des erneut zu befürchtenden globalen Ausgreifens des militanten Liberalismus die Zeichen momentan nicht günstig stehen, gibt es keinen Grund zum Pessimismus:

Im Verlauf der Geschichte ist bisher noch jeder Dualismus an den ewigen Fakten des Lebens gescheitert, denn „die Wirklichkeit ist immer rechts“ (Joachim C. Fest). Und von zeitloser Gültigkeit ist auch Machiavellis Satz: „Die Welt bleibt stets dieselbe, nur die Machtverhältnisse wechseln.“

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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