Die Vibrationen des polnischen Schnellzugs sind fast so einlullend wie das Stampfen von Schiffsdieseln. Und immer wieder ertönt von der Lokomotive der schrille Signalton, der einen Bahnübergang anzeigt. Es geht gen Osten.
Es ist manchmal erstaunlich, wie viel Russisch man versteht, obwohl man es nicht spricht. Das liegt an den zahlreichen Lehnwörtern aus romanischen Sprachen und in meinem Fall auch an der eingehenden Lektüre von Anthony Burgess’ „A Clockwork Orange“. Immer wieder gelingt es mir, der Unterhaltung meiner ukrainischen Mitreisenden für kürzere Zeit zu folgen. Mit mir im Abteil sitzen zwei junge Frauen, ein kleiner blonder Junge und ein Rentnerehepaar. Die blutjunge Mutter neben mir und ihr Sohn kommen aus Dnipro, die anderen drei Passagiere sind aus Kiew und Umgebung. Sie sind in Lublin zugestiegen. Stundenlang schimpfen sie in der Sprache der Invasoren über den russischen Angriffskrieg. Ganz bewusst wechseln sie manchmal ins Ukrainische, aber sie sprechen nicht den als „Surschyk“ bekannten Mischmasch aus beiden Sprachen.
Anhand von Orts- und Personennamen ist es immer wieder möglich, den jeweiligen Kontext herauszubekommen und die Bedeutung des Gesagten wenigstens teilweise zu erfassen. Ein Beispiel: Der Mittsiebziger schräg gegenüber zählt ein paar Namen auf, darunter diejenigen Osama bin Ladens und Gaddafis. Nach einer rhetorischen Pause stellt er empört eine Frage, in der der Name des russischen Präsidenten vorkommt. Die Sache ist klar, aber ich erkundige mich sicherheitshalber bei meiner Nebensitzerin, die schon ein bisschen Deutsch spricht, ob ich ihn richtig verstanden habe. Und in der Tat: Bin Laden und Gaddafi habe der Westen beseitigt. Worauf warte man im Falle Putins? Der Mann hat als Lastwagenfahrer und Geschichtslehrer gearbeitet. Offenbar überzeugt davon, dass ich fast jedes Wort verstehe, hält er mir einen Vortrag über die Geschichte seines Landes. Für die eigenwillige Geschichtsauffassung des Kreml-Chefs, der der Ukraine das Existenzrecht abspricht, hat er Nichts übrig. Mehrmals bezeichnet er Putin verärgert als einen „Täuscher“.
Als Anastasia erfährt, dass ich als Journalist in die Ukraine reise, sagt sie: „Das bedeutet mir und meinem Land sehr viel.“ Deutschland sei weit weg und ich nicht verpflichtet, so ein Risiko einzugehen. Derartige Situationen sind mir immer unangenehm, denn ich weiß in der Regel nicht: Was antworten? Ich mache das ja in erster Linie, um meine Abenteuerlust zu befriedigen, nicht aus reiner Herzensgüte. Ich schaue aus dem Fenster. Gerade ertönt wieder das schrille Pfeifen der Lokomotive.
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Es ist noch gar nicht sicher, ob ich dieses Mal überhaupt bis zur Front durchkomme. Offenbar hat die ukrainische Führung im Zusammenhang mit der in vollem Gange befindlichen Gegenoffensive ein Verbot verhängt, das es Journalisten untersagt, von der Hauptkampflinie zu berichten. Akkreditierung als Kriegsberichterstatter hin oder her. Es ist jetzt schon mehr als ein Jahr vergangen, seit ich zuletzt in die Ukraine gereist bin. Seither hat es neben dem Kommandeur des 49. Infanteriebataillons auch den Australier Trevor Kjeldal, genannt „Ninja“, erwischt. Mörserfeuer.
Der Argentinier „Messi“ hat ein Bein verloren und der junge Amerikaner „Denver“ wurde schwer am Rücken verwundet. „Conor“ wurde als Hochstapler enttarnt und hat sich mit einem geklauten Sturmgewehr und etwas Kohle von der Truppe abgesetzt. Der britische Sanitäter „Moth“ und die Amerikanerin Ava haben mittlerweile geheiratet und leben zusammen in England. Wie es dazu kam, schrieb mir „Moth“ über Signal:
„Das Bataillon hatte sich vergrößert. Wir hatten zwei squads mit westlichen Kämpfern und eine mit hispanischen. Ich habe mich einer der westlichen Gruppen angeschlossen. Ursprünglich als Sanitäter. […] Wir sind in Charkiw in die Offensive gegangen und ich hatte plötzlich die Befehlsgewalt. Wir haben sehr viel Boden gutgemacht. […] Während Ava einen Verwundeten bergen wollte, wurde sie selbst verwundet. Ein anderer Kerl wurde durch eine Panzergranate getötet. Ich bin dann nach vorne gegangen und habe sie dort rausgeholt und jetzt sind wir verheiratet, haha. Witzig, wie es manchmal im Leben kommt.“
Leider ist der Kontakt zu „Moth“, der sich jetzt wieder Timothy nennt, abgerissen, weil mir mein Handy in ein Duisburger Hafenbecken gefallen ist.
Als sich der ukrainische Zug von der polnischen Grenzstadt Przemysl im Karpatenvorland in Bewegung setzt, macht es im Abstand weniger Sekunden „Badumm, badamm, badamm“. Irgendwann hört das Klackern dann wieder auf. Neben mir sitzt ein 37-jähriger Panzerkommandant, der in Deutschland an Leopard-Panzern ausgebildet wurde. Als ich dem Feldwebel viel Glück wünsche, macht er mit der rechten Hand eine Geste, die Unsicherheit ausdrücken soll: „I have Leopard 1 A5.“ Der sei zwar recht schnell, habe aber eine dünne Panzerung. Er und seine Kameraden pflegten zu scherzen, es handele sich um einen BMW. „Der 2 A6 wäre besser“, pflichte ich ihm bei. Jetzt lacht der Ukrainer und sagt: „Yes, 2 A6 is very good tank.“ 5 Uhr morgens: Der Zug hält in einer Kleinstadt zwischen Lemberg und Kiew. Sirenen heulen auf. Der Feldwebel und ich sehen aus dem Fenster, aber es ist nur der nächtliche Luftalarm, der im ganzen Land längst zur Routine geworden ist. Meine Destination heißt Kramatorsk.