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Ist Chinas Aufstieg Amerikas Abstieg?

3. November 2022
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Nach dem Fall der Berliner Mauer (1989) und dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1991) prophezeite Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ und den globalen Sieg des westlichen Liberalismus. Anläßlich seines neuen Buches „Der Liberalismus und seine Feinde“ (Verlag Hoffmann und Campe, 2022) interviewte Sonja Zekri, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, den amerikanischen Politikwissenschaftler:

„Sie schreiben in Ihrem Buch: ´Die USA sind seit langem die führende liberale Weltmacht und für Menschen auf der ganzen Welt ein Leuchtturm der Freiheit.´ Ist das nicht eher eine romantische Selbstbeschreibung?“

Fukuyama: „Diese Formulierung stimmt nicht mehr. Die meisten meiner chinesischen Studenten beispielsweise wünschten sich vor fünfzehn, zwanzig Jahren, daß China sich nach dem Vorbild Amerikas entwickelt. Heute sagt das keiner mehr. Auf die US-Politik sehen sie mit Verachtung.“ Wäre er ein chinesischer Student, so Fukuyama, würde er eine solche Polarisierung und eine so dumme Politik wie in Washington auch nicht wollen (SZ, 11. Oktober).

Xi Jinping, vor wenigen Tagen auf dem 20. Parteitag der KP für eine dritte fünfjährige Amtszeit als Generalsekretär gewählt, kann den Sinneswandel seiner Landsleute aus eigenem Erleben bestätigen. Als junger Mann war Xi 1985 für einige Wochen Gast in der Familie eines amerikanischen Soja-Farmers in der Kleinstadt Muscatine im Bundesstaat Iowa. Am Fenster seiner Gastfamilie, die er 2012 erneut besuchte – diesmal jedoch als offizieller Staatsgast –, sah Xi erstmals Eltern mit Autos vorbeifahren, die ihre Kinder zur Schule brachten. Für einen Chinesen, der das Fahrrad als höchste Stufe der Mobilität kannte, war das damals ein nahezu unglaubliches Wunder. Im März 2021, als er das Selbstbewußtsein seiner Nation beschwor, verkündete Xi, Chinas Jugend könne jetzt „aufrecht und stolz“ dastehen, wenn sie ins Ausland reise – „anders als wir jung waren“. Die Volksrepublik habe geschafft, wofür Industrieländer mehrere hundert Jahre gebraucht hätten.

Und in der Tat: Unter Xi Jinpings Regentschaft hat sich allein in den vergangenen zehn Jahren das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt. In dieser Zeitspanne wurde auch, wie versprochen, die absolute Armut beseitigt. Dank der 1978 von Deng Xiaoping eingeleiteten Reform- und Öffnungspolitik hat sich China in rasantem Tempo zu einem modernen Industriestaat entwickelt. Von 1978 bis 2015 stieg das Bruttoinlandsprodukt um das 48fache. Dank Globalisierung und Digitalisierung ist die Volksrepublik heute nach den USA die zweitgrößte Wirtschaftsmacht, stellt mit ihren mehr als 500 Millionen zur Mittelschicht zählenden Konsumenten für nahezu alle Produzenten den bedeutendsten und lukrativsten Binnenmarkt der Welt dar und verfügt mit drei Billionen Dollar über die meisten Devisenreserven.

Dies alles, das mußte dieser Tage selbst die Süddeutsche Zeitung einräumen, die ansonsten kein gutes Haar an Pekings Herrschern läßt, sei „eines der größten Wirtschaftswunder der Weltgeschichte“. Xi Jinpings erklärtes Ziel ist es, China wieder zu alter Größe zu führen, was durch eine patriotische Ideologisierung im Innern und eine selbstbewußte Politik nach außen befördert werden soll. Schließlich war das „Reich der Mitte“ über Jahrhunderte nicht nur eine, sondern die führende Weltmacht. Immer wieder bezieht sich Xi auf jene Zeiten und plädiert auch für die Rehabilitierung des Konfuzius, der während der von Mao Zedong initiierten Kulturrevolution in Acht und Bann war.

Angesichts der globalen Bedeutung der Volksrepublik nimmt es nicht wunder, daß manche Begleiter von Bundeskanzler Olaf Scholz auf dessen erster China-Reise deutschen Politikern zum Pragmatismus statt der ständigen Dämonisierung raten. So läßt BASF-Chef Martin Brudermüller keinen Zweifel daran, daß das ökonomische Wohl seines Konzerns an der Volksrepublik hängt. Ein Decoupling, eine Entkoppelung, kommt für ihn nicht in Frage. „Man darf die Welt nicht schwarz oder weiß sehen“, erklärte er in einem Interview mit der SZ: „Wichtige Vorhaben wie der Klimaschutz sind ohne China nicht lösbar.“

Wie Volkswagen, BMW und Mercedes gehört auch der Chemie-Konzern aus Ludwigshafen zu den größten Investoren in China. In Zhangjiang in der Provinz Guandong steckt BASF gerade zehn Milliarden Dollar in einen neuen Standort. Im November 2019 war Spatenstich, 2030 soll alles fertig sein. In der Volksrepublik, so Brudermüller, seien Dynamik und positive Einstellung der Menschen ungebrochen. Zehn Jahre habe er dort gelebt; vom ständigen China-Bashing in Deutschland sei er genervt.

Vornehmlich drei Themenkomplexe sind es, die besonders von deutschen Leitmedien Xi Jinping nach seiner jüngsten Bestätigung durch den Parteitag vorgeworfen werden: 1. Ideologisierung der Politik statt eines weiter pragmatischen Reformkurses, 2. Einsetzung wirtschaftlicher Maßnahmen zur Erreichung geopolitischer Ziele, 3. eine aggressive Außenpolitik durch Einschüchterung und Erpressung. Was den ersten Punkt betrifft, so sind im Westen die „werte-basierte“ und in Deutschland besonders betonte „feministische“ Außenpolitik ideologisch wohl kaum zu überbieten. Als offizielle Haltung der USA hinsichtlich der Wirtschaftspolitik gilt Präsident Joe Bidens Edikt, „der Westen müsse China vom Zugang zu amerikanischer und europäischer Hochtechnologie abschneiden“ (SZ, 29.Oktober). Bereits Anfang Oktober verhängte Washington gegen China einen sofortigen Lieferstop für alle Halbleiter und alle für die Halbleiter-Produktion notwendigen Geräte aus US-Herstellung.



Nicht Verständnis, aber historisches Verstehen hilft bei der Einordnung der Pekinger Außenpolitik bezüglich des Südchinesischen Meeres: Japan hatte 1945 nach seiner Kapitulation das Meer der damals regierenden Republik China unter der Regentschaft Tschiang Kai-scheks übereignet. Die Anrainerstaaten Vietnam, Korea, Malaysia, Indonesien, Philippinen etc. existierten damals noch nicht als unabhängige Staaten, sondern waren Kolonien. Als die Kommunisten 1949 Festlandchina eroberten und Tschiang mit seinen Getreuen auf die Inselprovinz Taiwan flüchtete, übernahmen die USA die Wächterrolle für einen „offenen und freien Indopazifik“ und gründeten 2021 mit Australien und Großbritannien ein trilaterales Militärbündnis (Aukus).

Auch in der Taiwan-Frage droht ständig eine unheilvolle Konfrontation zwischen China und den Vereinigten Staaten. Die Behauptung, die „demokratisch regierte Inselrepublik“ habe nie zur Volksrepublik gehört und müsse daher unabhängig werden, ist völkerrechtlich nicht haltbar. Mit der Resolution Nr. 2758 der UN-Vollversammlung vom 25. Oktober 1971 wurde mehrheitlich festgestellt, daß der einzig legitime Rechtsnachfolger der 1912 gegründeten Republik China die seit 1949 in Peking residierende Volksrepublik ist, zu der als integraler Bestandteil die Inselprovinz Taiwan gehört. Jeder Staat, der diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik unterhält – und das sind bis heute einschließlich der USA fast alle Staaten der Welt – akzeptiert diese völkerrechtlich verankerte Ein-China-Politik.

Während der Westen sein Demokratie-Modell der ganzen Welt zur Nachahmung empfiehlt, lehnt Peking dies strikt ab. Am 24. Oktober erklärte Sun Yeli, Vizeleiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Zentralkomitees: „China wird sein Entwicklungsmodell nicht exportieren und nicht von anderen Nationen verlangen, Chinas Praktiken nachzuahmen.“ China werde aber auch kein Entwicklungsmodell aus anderen Nationen importieren und sich entschieden dagegen wehren, sich von anderen Nationen ein Modell aufzwingen zu lassen. Schließlich gebe es kein Modernisierungsmodell, das allen Umständen oder übergeordneten Modernisierungsstandards entspreche.

Daß wegen der jahrzehntelangen Schwäche Chinas nach 1945 der phänomenale Aufstieg der USA auch in Asien gelang, ist unbestritten. Ob zwangsläufig mit Chinas Aufstieg der Abstieg Amerikas eingeleitet wird, hängt von beiden Kontrahenten ab. Ende Oktober rief Xi Jinping die USA zur Zusammenarbeit auf. Um den Weltfrieden zu sichern, müßten beide Staaten „Wege finden, miteinander klarzukommen“. China sei bereit, „mit den USA in gegenseitigem Respekt und friedlicher Koexistenz zusammenzuarbeiten“.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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