istock-PeterHermesFurian

Maduro, Taiwan und das Völkerrecht

12. Januar 2023
in 4 min lesen

„Wer regiert gerade in Venezuela?“ Mit dieser scheinbar einfachen Frage erinnerte dieser Tage die Süddeutsche Zeitung das Auswärtige Amt an ein peinliches Dilemma, aus dem die Ampel-Koalition bis heute keinen Ausweg gefunden hat. Ein Sprecher, so die SZ, habe lediglich erwidert, die Bundesrepublik erkenne keine Regierungen, sondern nur Staaten an; insofern stelle sich die Frage „in dieser Form“ nicht. Eine völkerrechtlich korrekte, gleichwohl nichtssagende Antwort, denn bezüglich Venezuelas hat sich Deutschland in eine diplomatische Sackgasse manövriert.

Schuld an dem Schlamassel ist die Große Koalition aus Union und SPD. Im Februar 2019 hatte Heiko Maas (SPD), Außenminister und Weltpolitiker, durch Abweichung von den eigenen Prinzipien eben doch eine Regierung expressis verbis anerkannt, nämlich die des selbsternannten venezolanischen Interimspräsidenten Juan Guaidó. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als wären die Tage des diktatorisch regierenden Nicolás Maduro gezählt. Doch heute, vier Jahre später, sitzt Maduro längst wieder fest im Sattel, seinen Gegenspieler Guaidó hat die ihn einst unterstützende Opposition schon vor Jahren fallengelassen.

Was nun? „Die Situation ist sehr ausweglos und sehr vertrackt“, räumt Ulrich Lechte, außenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, ein. Jetzt seien die europäischen Staaten aufgerufen, neue Venezuela- Strategien zu erarbeiten. Nicht nur Deutschland, sondern rund sechzig weitere Länder hatten seinerzeit auf das falsche Pferd gesetzt. „Der Versuch, damit einen Demokratisierungsprozeß in Venezuela zu unterstützen, ist auf ganzer Linie gescheitert“, lautet das bedauernde Fazit der Süddeutschen Zeitung (9. Januar).

Nicht völkerrechtskonform war dieser Tage auch der Besuch der Insel Taiwan durch eine Delegation von FDP-Abgeordneten unter Führung Marie-Agnes Strack-Zimmermanns. Angesichts der zunehmend aggressiven Töne aus Peking und des Eindringens chinesischer Schiffe und Flugzeuge in taiwanesisches Hoheitsgebiet, so die Argumentation der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestages, wollten die liberalen Politiker „ein Zeichen der Solidarität mit Taiwan setzen“. Anders als Venezuela ist Taiwan jedoch weder unabhängig noch ein souveräner Staat, sondern eine chinesische Provinz. Wenn westliche Medien und Politiker seit geraumer Zeit unisono und mit gespielter Empörung Pekings Gebietsansprüche mit der Behauptung zurückweisen, die „demokratische Inselrepublik“ sei nie Teil der kommunistischen Volksrepublik gewesen, dann tun sie dies wider besseres Wissen, denn das Völkerrecht – siehe oben – kennt nur Staaten, keine Regierungen.

Am 25. Oktober 1971 wurden in der UN-Vollversammlung die Weichen für eine Konstellation gestellt, die heute das Schlimmste befürchten läßt: eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen China und den USA. Ursache war und ist die jahrzehntelange Einmischung Washingtons in den chinesischen Bürgerkrieg, der, obwohl 1949 politisch und militärisch längst beigelegt, kein formelles Ende fand. Während die Kommunisten damals ganz Festlandchina unter ihre Kontrolle brachten und Mao Zedong am 1. Oktober 1949 in Peking die Gründung der Volksrepublik proklamierte, retteten sich die geschlagenen Truppen der Nationalisten auf das 120 Kilometer von der Küste entfernte Taiwan. Generalissimus Tschiang Kai-schek erklärte die Inselhauptstadt Taipeh zum provisorischen Regierungssitz der weiter bestehenden Republik China – in der Hoffnung, eines Tages mit amerikanischer Unterstützung das Festland zurückzuerobern.

Jahrelang gelang es den USA und ihren Verbündeten, die Aufnahme der Volksrepublik in die Vereinten Nationen zu blockieren, so daß die Frage offenblieb, ob die Vertretung Chinas durch das Exilregime auf Taiwan rechtmäßig sei. Doch 1971 wendete sich das Blatt. Im Juli brachte Albanien mit siebzehn weiteren Staaten die Resolution Nr. 2758 für die 26. Sitzungsperiode ein. Die entscheidende Passage lautete: „Die Vollversammlung der Vereinten Nationen (…) beschließt die Wiedereinsetzung der Volksrepublik China in alle ihre Rechte und die Anerkennung der Vertreter ihrer Regierung als die einzigen legitimierten Vertreter Chinas in der UNO und fordert zugleich den sofortigen Ausschluß der Vertreter Tschiang Kai-scheks aus den Sitzen , die sie in den Vereinten Nationen und allen ihr unterstehenden Organisationen zu Unrecht eingenommen haben.“



Am 25. Oktober wurde diese Resolution mit der erforderlichen Mehrheit von 76 Ja-Stimmen bei 35 Nein-Stimmen und 17 Enthaltungen angenommen. Gemäß dieser Ein-China-Politik, der sich bis heute nahezu alle Staaten – auch Deutschland, auch die USA – angeschlossen haben, ist die Volksrepublik der einzig legitime Rechtsnachfolger der Republik China und die Insel Taiwan ein integraler Bestandteil ihres Staatsgebiets. Besuche wie jener der US-Politikerin Nancy Pelosi 2022 oder jetzt der FDP-Delegation bei der Regierung in Taipeh sind für Peking daher nicht zu Unrecht Einmischungen in Chinas innere Angelegenheiten. Doch die alles entscheidende Resolution von 1971 wird von den meisten deutschen Medien wohlweislich verschwiegen.

Für die USA war das damalige UN-Votum die bislang schwerste diplomatische Niederlage. Schon fünf Monate später zog Richard Nixon die Konsequenz und besuchte als erster US-Präsident in Peking den Erzfeind von gestern. Im Schanghaier Communiqué vom 27. Februar 1972 bestätigten die USA, daß Taiwan wie Tibet ein integraler Bestandteil Chinas sei, und verpflichteten sich zur Nichteinmischung in dessen innere Angelegenheiten. 1979 tauschten beide Seiten Botschafter aus. Washington brach die Beziehungen zur Republik China ab und kündigte den Verteidigungspakt mit Tschiangs Regime. Am 10. April 1979 verabschiedete der US-Kongreß indes den Taiwan Relations Act, der Washington bis heute jede Handhabe gibt, sich für die Insel weiterhin militärisch einzusetzen. Diesem Gesetz zufolge betrachten die USA „jegliche Maßnahme, die Zukunft Taiwans anders als durch friedliche Methoden zu bestimmen, einschließlich Boykotten und Embargos, als Bedrohung für den westpazifischen Raum und als sehr besorgniserregend für die Vereinigten Staaten“. Peking bestreitet die Rechtmäßigkeit des Taiwan Relations Act, denn er sei eine „unbefugte Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten“ und widerspreche dem Schanghaier Communiqué.

Bis heute firmiert Taiwan unter dem Namen Republik China, obwohl die Herrschaft Tschiang Kai-scheks, der 1975 starb, mit dem Tod seines Sohnes Tschiang Tsching-kuo 1988 ihr definitives Ende fand. Nach tiefgreifenden Reformen regierte jedoch weiterhin die einstige Bürgerkriegspartei Kuomintang (KMT), die Nationale Volkspartei. 2008 gewann sie bei der Parlamentswahl 71 Prozent der Sitze, ihr Kandidat Ma Ying-jeou wurde zum Staatspräsidenten gewählt. Ma betrieb eine Politik der Annäherung an die Volksrepublik. Bereits beim „Konsens von 1992″ hatten KP und KMT die Ein-China-Politik bekräftigt und alle Unabhängigkeitsbestrebungen entschieden abgelehnt. 2012 konnte die KMT ihre absolute Mehrheit im Parlament behaupten; Ma wurde als Präsident wiedergewählt.

In den Folgejahren sank die Popularität der KMT indes so stark, daß ihr Vorsitzender Eric Chu 2016 die Wahl an Tsai Ing-wen verlor, die Kandidatin der Demokratischen Volkspartei (DPP). Vier Jahre später, 2020, triumphierten Tsai und ihre DPP erneut. Die meisten ihrer Anhänger würden die Insel am liebsten als „Republik Taiwan“ in die Unabhängigkeit führen – für Peking wäre dies erklärtermaßen der Casus belli. Auch die Kuomintang lehnt derartige Bestrebungen ab. Im September 2021 sandte Staats-und Parteichef Xi Jinping ein Telegramm an Eric Chu und gratulierte ihm zur Wiederwahl als KMT-Vorsitzender. KP und KMT, so Xi, sollten die guten Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwan-Straße vorantreiben. Eric Chu dankte Xi und plädierte ebenfalls für eine verstärkte Zusammenarbeit auf dem Weg zu einer friedlichen Wiedervereinigung.

Da die USA angesichts des aufstrebenden China ihre Führungsrolle im Pazifik festigen wollen, unterstützen sie Taiwan primär aus geostrategischen Gründen. In den anderen westlichen Ländern sind es vornehmlich Linke und Linksliberale, die die politisch gespaltene Insel zu einer zweiten Ukraine stilisieren wollen, die „Demokratie, Freiheit und Frieden“ gegen einen übermächtigen aggressiven Nachbarn verteidigen müsse. Mit völkerrechtlichen Argumenten hat das alles nichts zu tun, wie hier und hier dargelegt wurde.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

Mehr vom Autor