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‚Alle Macht den Kindern‘ heißt: Terror im Klassenzimmer

28. September 2021
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Wenn die Kinder keine Lust mehr haben und sie das sagen, dann frage ich sie, worauf sie Lust haben und dann machen wir halt das. Die Kinder wissen genau, wann sie was brauchen.“, erklärt mir eine Kommilitonin. Wieder einmal haben wir in einem Seminar meines Lehramtsstudiums das leidige Thema des Rollenverständnisses von Lehrern und Schülern erreicht.

Gerade jetzt, wo im Zuge der Coronakrise die Kritik am Bildungssystem neue Wellen schlägt, ist dies eine der zentralen Fragen, an der sich die Geister scheiden: Welche Hierarchie sollte zwischen Lehrer und Schüler bestehen? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, möchte ich zunächst kurz auf die zwei Narrative zu den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes eingehen.

“Arvit ist etwas speziell…“

Für meine Kommilitonin ist das Kind ein nach Autonomie strebendes Wesen, dem es in seiner Entwicklung möglichst viele Freiheiten einzuräumen gilt. Das Kind wisse von selbst, was es gerade braucht und was es lernen möchte. Der Erwachsene stellt mehr eine Umgebung der Wertschätzung zur Verfügung, ohne das Kind nach den eigenen Vorstellungen zu formen oder manchmal gar Grenzen zu setzen. Kinder seien Schöpfer ihrer eigenen Kindheit und selbstständige Akteure und diesen Annahmen sollte im Lernkontext Rechnung getragen werden.

Ich hingegen stehe für die Auffassung, dass das Kind den Erwachsenen braucht, um seine Persönlichkeit zu entwickeln und es gerade nicht immer von selbst weiß, was es tun oder lassen sollte. Jedes Kind benötigt klare Regeln und vor allem durch die Richtungsweisung der Erwachsenen bekommt das Kind die Basis, um sich altersgemäß entwickeln zu können. Erst aus dieser Sicherheit und Formung heraus kann sich später autonomes Handeln herausbilden und eine kritische Reflexion erfolgen.

Aktuell sind wir in einer Zeit angekommen, in der die erste Auffassung die fachlich-intellektuelle Debatte zu diesem Thema sehr stark für sich einnimmt. In überzeugter Manier wird gesagt, dass diese Form des Umgangs mit Kindern die Richtige sei. Unser pädagogisches Handeln sollte durch mehr Freiheiten für die Kinder in Kombination mit wenig Vorgaben und erzieherischen Maßnahmen durch die Erwachsenen geprägt sein. Wir müssten unsere Erwartungshaltungen zurückstellen und weniger das Ergebnis steuern. Es ist der Glaube vorherrschend, dass man als Erwachsener nur störe und die selbstgesteuerte kindliche Entwicklung behindere. Doch meiner Meinung nach ist genau das Gegenteil der Fall.

“Kevins Vater hat sich nie jekümmert, ick war völlig überfordert.“

Gerade für die emotionale Entwicklung und die soziale Eingliederungsfähigkeit in die Gesellschaft ist das Vorbild eines Erwachsenen unerlässlich. Erst wenn das kindliche Verhalten nicht nur lustgesteuert und egozentrisch ist, kann sich ein positives Arbeits- und Sozialverhalten entwickeln. In der Welt der kleinen Erwachsenen rotieren die Kinder um sich selbst, ohne die Möglichkeit einer Weiterentwicklung und Reifung zu erleben. Besonders diese persönliche Reifung ist ein mühevoller und teilweise anstrengender Prozess sowohl für Schüler, Eltern als auch für Lehrer.

Wenn wir eine Gesellschaft aus lebensfähigen und selbstständigen Individuen anstreben, ist dieser Prozess jedoch unerlässlich. Es gibt dorthin keinen leichten Weg oder eine Umleitung, um zum selben Ergebnis zu kommen. Und so findet man sich lieber mit dem Versagen auf allen Ebenen ab. Jede Institution, von der Familie über den Kindergarten hin zur Schule, drückt sich immer mehr vor der Aufgabe, die Kinder mit pädagogischem Gespür aus ihrer egozentrischen „Ich-will-und-kann-das-alles!-Haltung“ zu bewegen.

Mir ist sehr bewusst, dass die Situation in den Klassenzimmern nicht einfacher wird. Aber gerade deshalb kann die Lösung im System nicht sein, vor den Gegebenheiten einfach einzuknicken und dies vor allem noch als neumodisches, pädagogisch-revolutionäres Universalheilmittel anzupreisen.

“Der Jason ist sehr reif für sein Alter, sagt die Psychologin.“

Die Konsequenzen einer solchen Fehlentwicklung sind für die Kinder als auch für die Gesellschaft fatal. Immer weniger Kinder haben ein altersgemäß entwickeltes (Sozial)verhalten und da sich die einflussreichen Institutionen von ihrer Aufgabe zurückziehen, wird sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten ungemein erhöhen. Es wird für sie unglaublich schwer werden, sich im Leben zurechtzufinden und ein produktives Mitglied der Gemeinschaft zu werden.

Wie sollen die Kinder aus ihrer lustorientierten Konditionierung eine angemessene leistungsorientierte Arbeitshaltung entwickeln? Wie steht es mit emotionalen Aspekten wie Einfühlungsvermögen, Stressresistenz und Verantwortungsbereitschaft, Pflichtbewusstsein, Durchhaltevermögen und Rücksichtnahme? All diese Entwicklungen laufen nicht von selbst ab und benötigen zu ihrer Ausprägung die konsistente pädagogische Anleitung eines Erwachsenen.

Doch wieso findet diese Anleitung immer weniger statt? Diese Haltung resultiert, soweit ich das in meinem Umfeld beurteilen kann, nicht aus einer bewussten Schädigungsabsicht oder Gleichgültigkeitseinstellung gegenüber den Kindern. Den angehenden Lehrern wurde es erfolgreich beigebracht und viele sind fest davon überzeugt, mit ihrer Begleiterrolle dem Kind etwas Gutes zu tun. Doch schaut man hinter die Fassade, bemerkt man schnell, dass Menschen, die dieser Auffassung von Kindheit nahe stehen, sich von Verantwortung zurückziehen wollen.

”Du, der Pascal macht das schon.”

Für jede Führung, jede Anweisung, die man gibt, gilt es, als Erwachsener gerade zu stehen. Indem wir dem Kind immer mehr Autonomie zugestehen, entziehen wir uns als Erwachsene umso mehr dieser Verantwortungsposition. Dem Kind werden Entscheidungsmöglichkeiten gegeben, die es noch nicht bewältigen oder dessen Konsequenzen es nicht überblicken kann.

Indem wir Kinder wie kleine Erwachsene behandeln, manifestiert sich ein Unwille bzw. eine Abneigung, erzieherisch tätig zu werden und dabei wert- bzw. grenzsetzend zu handeln. Man müsste dann die daraus resultierende Disharmonie aushalten können. Oft wird dies jedoch durch den Versuch einer Legitimation mit Bezug auf konstruktivistische Theorien versteckt. Auch handeln manche Lehrer in dem Gutglauben, dass man neutral handeln könne, um es allen recht zu machen – besonders sich selbst.

Doch das ist eine grandiose Illusion und die Lehrer schaden damit doppelt: sich selbst und den Kindern. Denn Schweigen will gelernt sein! In jedem unterlassenen Kommentar oder erzieherischen Zuwendung schwingt immer eine Billigung oder Zustimmung mit. Ist dann die ausbleibende Wertsetzung nicht mehr als ein nach außen getragener Beweis für die eigene innere Leere?

“Am Samstag kommt ihr alle zum Multikulti-Tag!”

Eine Ausnahme bilden die sogenannten „westlichen Werte“, die meine Generation als übergeordnete Handlungsmaximen hochhält. Auf einmal ist ihre weitreichende Toleranz und Zurückhaltung rückartig zu Ende. Plötzlich haben meine Kommilitonen kein Problem mehr damit, sich bei den Kindern „unbeliebt“ zu machen. Endlich können Haltung und absolute moralische Gewissheit demonstriert werden.

Das Kind ist dann nicht mehr so autonom wie angenommen und eine Wertsetzung durch einen Erwachsenen wird nicht mehr verteufelt. Dies führt soweit, dass es angehende Lehrer gibt, die, sobald sie ein Kind mit „nichtdemokratischen“ Überzeugungen in der Lerngruppe haben, nicht mehr weiterunterrichten können. Sie verarbe
iten es als einen persönlichen Angriff auf ihre innersten und vielleicht einzigen gelebten Werte.

Während ansonsten das pädagogische Paradigma gilt, kein Kind bloßzustellen, werden in einem solchen Verdachtsfall pädagogische Tugenden über den Haufen geworfen. Noch können die Studenten „das Problem“ an die Klassenlehrer abschieben. Doch wie handeln sie, wenn sie später selbst Lehrer sind?

Luise Witt

Nach ihrem Lehramtsstudium entschied sich Luise Witt für eine Laufbahn abseits des pädagogischen Mainstreams. Wenn ihre Gedanken gerade nicht um die Schule kreisen, findet man sie umgeben von neurechten, dystopischen und philosophischen Bücherbergen, am Klavier oder in der Küche. Sie ist ein vehementer Verfechter toxischer Weiblichkeit, weshalb sie progressive Stadtbewohner und Demokratiepädagogen gern durch das Tragen von langen Röcken und Flechtfrisuren triggert.

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