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Warum Semiten gegen Semiten kämpfen

15. November 2023

Was in der Überschrift wie eine Paradoxie klingt, ist Folge eines Fehlers im deutschen Sprachgebrauch: Seit dem 19. Jahrhundert versteht man hierzulande unter „Antisemitismus“ den Haß auf alles Jüdische. Doch in Wahrheit – das findet sich in jedem besseren Lexikon oder bei Wikipedia – sind nicht nur Juden („Hebräer“) Semiten, also Angehörige einer historischen Sprach- und Völkergemeinschaft, sondern ebenso Ägypter sowie Araber, mithin auch die Palästinenser. Was sich am 7. Oktober durch den Terror-Anschlag der Hamas auf grauenhafte Weise entladen hat, mutet daher einmal mehr wie eine Rückkehr der Geschichte an.

Schließlich existiert der Konflikt um Palästina nicht erst seit der neuzeitlichen Gründung Israels, sondern ist seit biblischen Zeiten ein Dauerstreit im semitischen Völkergemisch. Historiker gehen davon aus, daß die Semiten bereits im 3. Jahrtausend vor Christus aus der arabischen Halbinsel nach Mesopotamien, Syrien und Palästina vorgedrungen sind. Israelitische Stämme, so der Stand der Forschung, seien in mehreren Wellen vom 15. bis 13. Jahrhundert v. Chr. von Süden und Osten allmählich in das von Kanaanäern besiedelte Palästina eingewandert und dort ansässig geworden.

Der Überlieferung zufolge hatte Moses zuvor die unterschiedlichen Stämme religiös geeint. Am Berg Sinai soll Jahwe (JHWH, Jehova) dem Propheten erschienen sein und ihm vor dem gesamten Volk die mündliche und die schriftliche Lehre (Zehn Gebote, Thora) übergeben haben. Anschließend erteilte ihm Jahwe den Auftrag, die Israeliten als „Gottes auserwähltes Volk“ aus der ägyptischen Sklaverei ins „gelobte Land Kanaan“ zu führen. Diese theologische Ursprungsgeschichte ist das zentrale Glaubensbekenntnis des Judentums. Sie hat als Altes Testament mit den fünf Büchern Moses Einzug auch in das viel später entstandene Christentum gehalten. Als Variante der Exodus-Darstellung taucht sie sogar im Koran auf, dem heiligen Buch des Islams, den Mohammed um 630 nach Christus als jüngste der monotheistischen Religionen begründet hat. Mit der Alleinstellung ihres jeweiligen Gottesbildes haben alle drei Glaubensrichtungen im nahöstlichen Raum eine unselige Rolle gespielt – und spielen sie teilweise noch heute.

„Israel“ (hebräisch: „für den Gott streitet“) ist der Ehrenname Jakobs, des dritten biblischen Erzvaters, und seiner Nachkommen, also der Kinder Israels, mithin der Israeliten. Im Unterschied zu allen anderen Religionen wurde das Judentum in seiner Geschichte stets als Einheit von Nation und Glaubenslehre verstanden; es will also nicht missionieren, denn als „auserwähltes Volk Gottes“ nehmen die Juden eine Sonderstellung ein. Diese Exklusivität ist bei anderen Völkern als vermeintliche Anmaßung stets auf Mißtrauen und Ablehnung gestoßen.

Am Anfang der sogenannten Zeit der Könige stand die Staatenbildung durch Saul (um1.050 v. Chr.). Sein Nachfolger David (etwa 1.000-965 v. Chr.) gründete von dem im Süden wohnenden Stamm Juda aus das ganz Palästina umfassende Reich Israel und machte Jerusalem zur Hauptstadt des Landes. Die Regierungszeit seines Sohnes Salomo (965-926 v. Chr.), der Jahwe in Jerusalem einen prächtigen Tempel bauen ließ, war die Glanzzeit dieses Reiches. Doch in den folgenden Jahrhunderten zerbrach der Einheitsstaat, Palästina fiel an wechselnde Eroberer, zuletzt an die Römer. Der jüdische Aufstand (66-70 n. Chr.) endete mit der Zerstörung Jerusalems.

Jetzt begann die Massenzerstreuung der Israeliten über Vorderasien, Nordafrika und den Mittelmeerraum. Mit den christlichen Kreuzzügen setzte die große Welle der Judenverfolgungen ein. Seit dem Mittelalter war die soziale und die rechtliche Stellung der Juden in der Diaspora stark eingeschränkt – besonders in Osteuropa, wo es häufig zu Pogromen kam. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts folgten die meisten westeuropäischen Staaten der im Zuge der Aufklärung entstehenden Emanzipationsbewegung, mit der sich im Judentum eine Assimilationsbewegung verband. Ziel war es, das Judentum möglichst in seinen Gastvölkern aufgehen zu lassen. Demgegenüber setzte sich der aufkommende Zionismus für die Wiedererrichtung einer eigenen jüdischen Heimstätte in Palästina ein, dem einstigen „gelobten Land“. In fast allen Staaten führte der Aufschwung des Judentums Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem religiös, politisch und rassisch begründeten Antisemitismus, der im nationalsozialistischen Deutschland im Holocaust gipfelte, einer bis dahin unvorstellbaren Massenvernichtung der Juden.



Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen die Briten das bislang von den Osmanen regierte Palästina als Mandatsgebiet und ließen unter ihrem Schutz Juden einwandern, was zu heftigen Kämpfen zwischen Immigranten und Arabern führte. Welch verhängnisvolle Rolle Großbritannien damals gespielt hatte, räumte 2002 Außenminister Jack Straw ein:

„Die krummen Grenzen wurden von den Briten gezogen. Die Balfour-Deklaration und eine Reihe ihr widersprechender Garantien gingen an Israelis und Palästinenser gleichzeitig. Das ist eine interessante Geschichte, wenn auch keine ehrenhafte.“

In der Balfour-Deklaration hatte London den zionistischen Führern eine Heimstätte in Palästina versprochen, aber wegen des arabischen Widerstands einen Rückzieher gemacht. Zuvor hatten Großbritannien und Frankreich im geheimen Sykes-Picot-Abkommen ihre kolonialen Interessengebiete festgelegt und weite Teile des arabischen Territoriums unter sich aufgeteilt. Innerhalb ihrer jeweiligen Einflußzonen gründeten sie ohne Rücksicht auf historische Religions- und Stammesgrenzen Kunststaaten wie Jordanien, Irak, Syrien und Libanon.

Nachdem der britische Vorschlag, Palästina in eine britische, eine jüdische und eine arabische Zone zu teilen, 1938 von Juden und Arabern abgelehnt worden war, legten die Vereinten Nationen 1947 einen Teilungsplan vor. Er wies den damals 600.000 Juden 55 Prozent des Landes zu, den 1,2 Millionen Palästinensern jedoch, die seinerzeit noch Eigentümer von 94 Prozent des Landes waren, lediglich 45 Prozent. Nach der Ablehnung auch dieses Vorschlags übergaben die Briten, deren Mandat am 14. Mai 1948 endete, die Macht an den am gleichen Tag von Ben Gurion proklamierten Staat Israel. Für die Juden ging ein Traum in Erfüllung, für die Palästinenser war es der Beginn der „Nakba“-Katastrophe. Noch in der Nacht zum 15. Mai begann der erste Nahostkrieg. Im Januar 1949 endete er mit dem Sieg Israels. Rund 700.000 Palästinenser wurden vertrieben oder flüchteten in die Nachbarstaaten.

Selbst im 75. Jahr nach seiner Gründung muß Israel noch immer um die Wahrung der staatlichen Existenz kämpfen. Am 7. Oktober begann die siebte militärische Auseinandersetzung seit 1948: Suezkrise (1956), Sechs-Tage-Krieg (1967), Jom-Kippur-Krieg (1973), Libanon-Krieg (1982), erste Intifada (1987), zweite Intifada (2000). Der Horror des 7. Oktober, der brutale Überfall der Hamas, hat die israelische Gesellschaft zutiefst erschüttert. Israel, so die häufig gehörte Meinung, sei für Juden kein sicherer Zufluchtsort mehr. Doch wie soll der Konflikt gelöst werden? Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte, erinnerte dieser Tage an eine Rede von Schimon Peres, dem ehemaligen israelischen Regierungschef, der vor 25 Jahren erklärte:

„Ich weiß, daß weder die Araber noch wir in einer Beziehung miteinander leben können, die die Dominanz der einen über die anderen voraussetzt.“

Immer wieder wird eine Zwei-Staaten-Lösung ins Spiel gebracht. Doch sie scheint angesichts der rund 700.000 israelischen Siedler, die völkerrechtswidrig im Westjordanland und in Ostjerusalem leben und die Palästinenser-Gebiete zerstückelt haben, kaum mehr möglich zu sein. Eine Ein-Staat-Lösung, also ein gemeinsamer Staat für Israelis und Araber, dürfte, siehe Schimon Peres, ebenfalls unrealistisch sein. Es würde das Ende der Idee eines dezidiert jüdischen Staates bedeuten. Obendrein würde die jüdische Bevölkerung in absehbarer Zeit demographisch majorisiert werden.

Auch für Deutschland hat der Nahost-Konflikt nichtabsehbare Folgen. Der zugewanderte muslimische Antisemitismus hat die linksliberale Kulturhegemonie bis ins Mark erschüttert. Der rotgrüne Traum einer in Harmonie lebenden multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft hat sich als furchterregende Dystopie entpuppt. Die seit Jahren vor dieser Entwicklung warnenden Stimmen wurden als rechtsradikales Geschwurbel mundtot gemacht. Als nächster immigrierter Konflikt könnte sich die Tragödie des kurdischen 40-Millionen-Volkes herausstellen. Auch gegenüber den Kurden haben die europäischen Kolonialmächte das Versprechen eines eigenen Staates gebrochen. Seit fast hundert Jahren leben sie nun verstreut im Iran, in der Türkei, in Syrien und im Irak. Bei jedem Erdogan-Besuch könnte es auf deutschen Straßen zu tumultartigen Auseinandersetzungen kommen. Wer für Vielfalt und Offenheit plädiert, sollte nie auf Toleranz bauen.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.


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