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Die Alte Welt im Umsturz

28. April 2023
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Bei seinem dreitägigen Moskau-Besuch Ende März konstatierte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, wir befänden uns in einer Zeit „globaler Veränderungen, wie wir sie seit 100 Jahren nicht mehr gesehen haben“. An seinen Amtskollegen Wladimir Putin richtete er den Appell: „Lassen Sie uns diesen Wandel gemeinsam vorantreiben!“

Man muß kein professioneller Beobachter des Zeitgeschehens sein, um hinter Xis Worten den allmählichen Niedergang des Westens bei gleichzeitigem Aufstieg bisheriger Schwellenländer auszumachen. Das Ranking der fünf größten Wirtschaftsmächte der Welt ist eindeutig: 1. USA, 2. China, 3. Japan, 4. Deutschland, 5. Indien. Vor hundert Jahren waren sowohl China als auch Indien Opfer des europäischen Kolonialismus, während die USA nach dem Ersten Weltkrieg auf ökonomischem und politischem Gebiet ihren globalen Siegeszug antraten, der sie bis heute an die Spitze der westlichen Demokratien geführt hat – mit der Maßgabe, auch in deren Namen als selbsternannter Weltpolizist aufzutreten.

Angesichts des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion schlossen 1941 die damaligen Regierungschefs der USA, Franklin D. Roosevelt, und Großbritanniens, Winston S. Churchill, die Atlantik-Charta, in der sie gemeinsame Grundsätze ihrer internationalen Politik in der „Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt“ formulierten. Unter Punkt eins hieß es, ihre Länder „streben keinerlei Bereicherung an, weder in territorialer noch in anderer Beziehung“, unter Punkt zwei, „sie achten das Recht aller Völker, sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben wünschen“. Auch hier bedarf es keiner Professionalität, um die Diskrepanz zwischen Beschwörung und Realität als Doppelmoral festzustellen.

Vierzig Jahre später ging es schon nicht mehr um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, sondern in der 1990 von 32 europäischen Staaten sowie von den USA und Kanada unterschriebenen Charta von Paris verpflichteten sich die Länder zur „Demokratie als einzig legitimer Regierungsform“ und sicherten ihren Untertanen die Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende der Ost-West-Konfrontation erklärte das Pariser Abkommen als Schlußdokument der KSZE die Spaltung Europas für beendet.

Im April, einige Wochen nach Xis Besuch in Moskau, tagten unter dem Vorsitz Japans die sieben wichtigsten westlichen Länder als Gruppe der G 7 (USA, Kanada, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien). Außenministerin Annalena Baerbock charakterisierte die Vereinigung wie folgt:

„Die G 7 sind gemeinsam stark, weil sie für eine internationale Ordnung eintreten, in der Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht Vorrang haben vor dem Recht des Stärkeren.“

Chinas Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Am 20. April konterte Außenamtssprecher Wang Wenbin auf seiner regulären Pressekonferenz:

„Wenn die G7-Gruppe wirklich gegen Hegemonismus und Zwang ist, dann sollte sie über sich selbst nachdenken und sicherstellen, daß Invasionen wie die in Afghanistan, Irak und Syrien nie wieder vorkommen.“

Die Welt von heute, so Wang, benötige weder eine „G Eins“, in der ein bestimmtes Land alle Befehle erteile, noch ein sogenanntes „Bündnis gemeinsamer Werte“. Wichtiger sei es, daß die Staaten einander trotz ihrer Unterschiede in Bezug auf Ideologie, Werte und Entwicklungsstand respektieren und zusammenarbeiten, um eine Gemeinschaft mit geteilter Zukunft für die Menschheit aufzubauen, denn, so zitierte er Pekings politisches Credo: „Es gibt nur eine Ordnung und ein System auf der Welt – und das ist die internationale Ordnung, die auf dem Völkerrecht und auf dem internationalen System basiert, in deren Mittelpunkt die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen stehen.“

Selbstredend verschwiegen die deutschen Mainstream-Medien diese Äußerungen oder taten sie als „leere Propagandafloskeln“ ab. Dafür überlieferten sie den Satz, mit dem Außenminister Qin Gang auf Baerbocks Versuch reagierte, ihren Amtskollegen anläßlich ihres Tage zuvor abgestatteten China-Besuchs über Deutschlands wertegeleitete feministische Außenpolitik ins Bild zu setzen:

„Wir benötigen keinen Lehrmeister, schon gar nicht aus dem Westen.“

Mit dieser Meinung steht Peking nicht allein. Immer mehr Länder, besonders im arabischen Raum, sind es leid, mit moralischen Vorhaltungen traktiert zu werden – von Politikern, bei deren Regierungen zwischen Worten und Taten nicht nur in der Vergangenheit so große Lücken klaffen, daß die Heuchelei offensichtlich ist.

Noch dominieren die westlichen Staaten, angeführt von den USA und zusammengeschlossen in Organisationen wie G 7, G 20, EU und NATO, die Weltpolitik. Sie haben die Regeln gesetzt und kontrollieren auch das globale Finanzwesen. So steht bis heute immer ein Europäer an der Spitze des Internationalen Währungsfonds (IWF), während die USA den Präsidenten der Weltbank und den Ersten Stellvertretenden IWF-Direktor stellen. Beide Institutionen verleihen Gelder an finanzschwache Länder und sollen die auf dem US-Dollar basierte Stabilität des internationalen Währungssystems sichern.


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In den letzten Jahren hat sich jedoch, angeführt von China, die Gruppe der BRICS-Staaten zu einem immer stärkeren Gegenpol entwickelt. Die Vereinigung aus Brasilien, Rußland, Indien, China und Südafrika will die Dominanz des Dollars brechen und ihn, wenn es nach Peking geht, durch den Yuan (die chinesische Volkswährung Renminbi) ersetzen. Die BRICS-Gruppe hat 2014 eine eigene Entwicklungsbank gegründet. Dieser „New Development Bank“ (NDB) sind mittlerweile auch Bangladesh, die Vereinigten Arabischen Emirate, sowie Ägypten und Uruguay beigetreten. Bis 2025 hat die ehemalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff die Leitung der Bank übernommen, die ihren Sitz in Schanghai, der größten Stadt der Volksrepublik, hat. Hauptaufgabe der NDB ist es ihren Angaben zufolge, „Ressourcen für Infrastruktur und nachhaltige Projekte in Schwellen-und Entwicklungsländern zu mobilisieren“. Für diese Zwecke verfügt die Bank über ein Kreditvolumen von 50 Milliarden Dollar und einen Reservefonds über weitere 100 Milliarden Dollar.

Daß der BRICS-Gruppe neunzehn weitere Staaten beitreten wollen, zeigt, wie mächtig sie als Gegengewicht zu den westlich dominierten Organisationen geworden ist. Offiziell um Beitritt gebeten haben Saudi-Arabien und der Iran, die sich durch Pekings Vermittlung erst kürzlich versöhnt haben. Staaten, die Interesse an einer Mitgliedschaft bekundet haben, sind Argentinien, Mexiko, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Algerien, Ägypten, Indonesien sowie Nigeria und drei weitere afrikanische Länder.

Schon mit seinem 2013 initiierten Projekt der Neuen Seidenstraße hat Xi Jinping das Tor zur Welt geöffnet, auch wenn Kritiker behaupten, Peking wolle nur ärmere Länder in eine Schuldenfalle locken. Mit der im April 2022 präsentierten Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) hat Xi ebenfalls von den Ländern des Südens viel Zuspruch erfahren. Die GSI, so das Konzept, stehe für ein globales Mehrheitsprinzip statt hegemonialer Alleingänge; eigene Sicherheitsinteressen dürften nicht auf Kosten anderer Staaten durchgesetzt werden; die territoriale Integrität aller Länder müsse gewahrt werden; Dialog und Verhandlungen hätten Vorrang vor Sanktionen und Krieg. Und was ist mit Rußlands völkerrechtswidrigem Überfall der Ukraine?, mag sich jetzt so mancher Europäer fragen. Nun, in anderen Erdteilen hält man den brutalen Krieg für einen Streit zwischen zwei Mitgliedern einer einstigen Union, der zwar bedauerlich ist, in den man sich aber besser nicht aus der Ferne einmischt.

Daß Chinas diplomatische Leistungen selbst in den USA auf ein positives Echo stoßen, haben Pekings Staatsmedien mit einem schadenfrohen Lächeln registriert. Am 28. März zitierten sie einen Beitrag der linksgerichteten US-Zeitschrift „Counterpunch“ mit dem Titel „Chinas Außenpolitik: Lektionen für die Vereinigten Staaten“. Während sich Washington, so die Zeitschrift am 21. März, in der Außenpolitik auf seine militärischen Kräfte stütze, verlasse sich Peking mit der Seidenstraße-Initiative auf wirtschaftliche Beziehungen. Dies habe China in ganz Südasien, Afrika und Südamerika sowie in der Karibik wichtigen Einfluß gebracht. Präsident Biden müsse anerkennen, daß die US-Politik zur Eindämmung der Volksrepublik in den vergangenen zehn Jahren ein großer Fehlschlag sei: China könne nicht „eingedämmt“ werden.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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