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Europa bangt um seine Existenz

23. Februar 2024

Die Europäer, zumindest die 27 Mitglieder der EU, sind hochgeschreckt. Endlich dämmert es ihnen, daß erstmals seit dem Mauerfall (1989) und dem Untergang der Sowjetunion (1991) ihre Existenz bedroht ist – diesmal sowohl von innen als auch von außen: Von innen wegen der nicht nur in Deutschland andauernden Massenmigration. Diese sei, so warnt Polens Regierungschef Donald Tusk, eine Frage des Überlebens der westlichen Zivilisation:

„Wir müssen aufwachen und verstehen, daß wir unsere Grenzen schützen müssen. Wenn wir offen für alle Formen der Migration sind, wird unsere Welt zusammenbrechen“

Die Bedrohung von außen ist nicht nur bedingt durch Rußlands völkerrechtswidrigen Überfall der Ukraine, sondern auch durch die allmähliche Umorientierung der USA weg vom Atlantik hin zum Pazifik, nicht zuletzt aber durch Donald Trumps Aussage, im Fall seiner Wiederwahl werde er Verbündete, die zu wenig für ihre Sicherheit zahlten, nicht vor Rußland schützen.

Was also tun? Auf dem letzten Treffen der Nato-Verteidigungsminister am 14. und 15. Februar in Brüssel konnte Generalsekretär Jens Stoltenberg verkünden, in diesem Jahr würden 18 der 31 Bündnispartner erstmals das Ziel erreichen, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung auszugeben; das seien sechsmal so viele wie 2014, als jene Marke verbindlich festgeschrieben wurde. Daß indes nach Adam Riese 13 Partner bei Trump in Ungnade fallen würden, verschwieg der Generalsekretär wohlweislich.

Und wo reiht sich Deutschland ein? Der Ukrainekrieg hat auch Berlin wachgerüttelt. Erstmals seit drei Jahrzehnten hat es der Nato wieder geplante Verteidigungsausgaben in Höhe der vereinbarten zwei Prozent gemeldet. Umgerechnet in Vergleichszahlen des Bündnisses wäre dies eine Summe von 73,41 Milliarden Dollar und entspräche einer BIP-Quote von 2,01 Prozent – so hoch war Deutschlands Anteil zuletzt 1992. Allerdings wird das 2022 als Reaktion auf den Krieg in der Nachbarschaft beschlossene Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr spätestens 2027 aufgebraucht sein. Um weiterhin das Zwei-Prozent-Ziel einzuhalten, muß es dann entweder aufgestockt oder der Verteidigungsetat, der 2024 knapp 52 Milliarden Euro beträgt, entsprechend erhöht werden.

Doch selbst eine ständige Erfüllung jener ominösen zwei Prozent kann die in EU und/oder Nato eingebundenen Europäer nicht beruhigen. Seit Trumps ruppiger Aussage und seinen abfälligen Bemerkungen über das Bündnis ist die Aufregung groß und wird es wohl für lange Zeit bleiben. „Wird Deutschland Atommacht?“ fragte die „Süddeutsche Zeitung“ zum Auftakt der Münchner Sicherheitskonferenz und brachte das Dilemma auf den Punkt:

„Falls Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt, könnte er Europa den nuklearen US-Schutzschild entziehen. Wer soll dann Sicherheit garantieren? Frankreichs und Großbritanniens Möglichkeiten sind begrenzt.“

Stoltenberg und Scholz machen es sich leicht, indem sie die entscheidende Frage von sich weisen. So erklärt der Generalsekretär auf der Brüsseler Bündniskonferenz im Brustton der Überzeugung:

„Wir haben die nukleare Abschreckung der Nato, und diese bietet den Verbündeten seit Jahrzehnten die ultimativen Sicherheitsgarantien.“

Es gelte, dafür zu sorgen, daß das funktionierende System sicher und zuverlässig bleibe. Auch der deutsche Kanzler beschwört das Prinzip Hoffnung und setzt wie seit Beginn des Ukrainekriegs voll auf die Stärke der USA und den Verbleib Präsident Bidens im Amt über das Jahr 2025 hinaus.

Was bleibt den beiden auch übrig? Eine realistische Alternative zu den Vereinigten Staaten ist nicht in Sicht. Frankreichs Atomarsenal ist relativ klein. Im übrigen ist schwer vorstellbar, daß Paris die Verfügungsgewalt über seine Waffen mit jemandem teilen würde. Schließlich handelt es sich um eine Frage der nationalen Souveränität. So schrieb Marine Le Pen, die gute Aussichten hat, 2027 die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, auf der Plattform X: „Unsere Atomwaffen zu europäisieren, wäre verrückt“ – ganz abzusehen davon, daß es noch nicht einmal eine europäische Armee gibt. Noch weniger als Frankreich, das als einziges EU-Land Nuklearwaffen besitzt, käme Großbritannien in Betracht, denn die Briten sind aus der EU ausgetreten, um ihre Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Außerdem verfügt London über keine taktischen, sondern nur über strategische Atomwaffen auf U-Booten.

Das Fazit ist ernüchternd. Am 15. Februar konstatiert Sönke Neitzel, Militärhistoriker an der Universität Potsdam, im Gespräch mit der SZ:

„Die Europäer können nicht einen Nuklearschirm aufbauen, der dem der USA entspricht. Das ist meines Erachtens völlig unrealistisch.“

Was allerdings in der sicherheitspolitischen Szene schon diskutiert werde, sei die Frage, ob nicht Länder wie Deutschland, Polen oder Italien sich ein Nuklearwaffenpotenzial wie Israel zulegen sollten. „Aber das“, so Neitzel, „wäre natürlich politisch eine echte Zeitenwende, weil ja Deutschland 1990 noch mal den Sperrvertrag unterschrieben hat. Und die Frage ist: Wollen die Amerikaner das überhaupt?“ Bis heute ist die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, wie sie im Sperrvertrag von 1970 geregelt ist, quasi deutsche Staatsdoktrin, die sich, wie die SZ anmerkt, sogar im SPD-Wahlprogramm von 2021 wiederfindet:

„Eine Welt ohne Atomwaffen ist und bleibt das Ziel sozialdemokratischer Außenpolitik.“

Außer Frankreich und England, beide nuklear bewaffnet und neben USA, Rußland und China Mitglieder des Weltsicherheitsrats, stehen die Europäer somit verteidigungsmäßig plötzlich ohne Hemd da – allen voran Deutschland, einst führende Wirtschaftsmacht, heute abgerutscht auf einen Abstiegsplatz. Weltpolitisch hat EU-Europa entgegen den Hymnen ihrer Kommissionspräsidentin von der Leyen immer mehr an Einfluß verloren – aus eigener Schuld: Die einstigen Kolonialmächte haben Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner mit penetranter Moralbelehrung und dem Predigen „westlicher Werte“ vergrault und werden häufig der Doppelmoral bezichtigt. Deutschland wiederum hat nie aus seiner Rolle als Vasall der USA herausgefunden und muß jetzt sogar gegenüber der Ukraine den Zahlmeister spielen, wenn Uncle Sam durch innere Blockaden ausfällt. Rußland, größtes und bevölkerungsstärkstes Land des Kontinents, ist nicht zuletzt auch durch die Politik der USA zum Hauptgegner von EU und Nato geworden, obwohl eine friedliche Koexistenz im Interesse besonders aller Europäer läge.

Doch im stets enger werdenden Verbund der EU zählen keine nationalen Interessen. Vorrang hat die transatlantische „Solidarität der Demokratien“, die sich dem zunehmenden Einfluß der „Autokratien“ – sprich: Moskau und Peking – entgegenstellen müssen, weil deren Herrscher die von den USA nach 1945 geschmiedete Weltordnung aushebeln wollen. Da Washington mit seinen militärischen Interventionen in Afghanistan sowie im Nahen und Mittleren Osten Schiffbruch erlitten hat, setzt es jetzt auf die Reaktivierung alter Bündnisse im pazifischen Raum. Sowohl Bidens Demokraten als auch Trumps Republikaner haben nämlich längst erkannt, daß nur das aufstrebende China Amerikas globale Machtstellung gefährden kann. Europa, darin sind sich die Politiker beider Parteien einig, müsse jetzt erwachsen werden und endlich auf eigenen Füßen stehen.

Umgekehrt jedoch sollten die Europäer aus ihrer jüngsten Geschichte lernen und sich nicht noch einmal in ein zweites Ukraine-Dilemma manövrieren lassen: Nur durch die jahrzehntelange Einmischung der USA in den chinesischen Bürgerkrieg ist das Taiwan-Problem entstanden, das jederzeit einen Weltenbrand auslösen kann. Blinde Solidarität würde daher den eigenen Untergang herbeiführen.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.


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