Letzte Woche haben wir uns mit dem Privateigentum und dessen Bedeutung sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht befasst. Na gut, was heißt „befasst“? Wir haben das Thema angerissen und dabei die Frage im Raum stehen lassen, wieso ausgerechnet Privateigentum für viele Konservative nicht in einer Reihe mit den heiligen Begriffen „Familie“, „Volk“ und „Vaterland“ steht. Wir haben den Namen Wilhelm Röpke ins Spiel gebracht (ein Porträt gibt es in unserer 7. Ausgabe „Eigentum“), und wir werden uns auch in Zukunft immer wieder auf diesen Denker beziehen.
Privateigentum ist die Grundlage unserer Freiheit, es ermöglicht jedem Einzelnen von uns die Unabhängigkeit von jeder Form der weltlichen Macht, die sich anschickt, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Die Unterscheidung zwischen „Meinem“ und „Deinem“ ist darüber hinaus kulturstiftend. Aus dem rein informellen Akt entsteht eine formale Ordnung. Das Grundstück wird abgesteckt, die Stadtgrenze bestimmt, das eigene Zeichen gesetzt. Verträge werden beschlossen, die ihrerseits die Besitzer zu Vertragspartnern erheben und rechtlich aneinander binden. Gebrochenes Recht wiederum wird sanktioniert, Schuld und Schaden müssen beglichen werden.
Wir müssen uns nicht auf das Niveau der marxistischen Scharlatane herablassen und in jeden steinzeitlichen Faustkeil die Existenz einer präkapitalistischen Ordnung hineininterpretieren. Jede Kultur ist zu jeder Zeit ihrer eigenen Logik unterworfen. Uns bleibt es allenthalben übrig, Strukturfragmente zu identifizieren und zu interpretieren.
Wenn demjenigen glaubwürdige – da umsetzbare und empfindliche – Konsequenzen drohen, der die Unantastbarkeit meines Privatbesitzes verletzt, dann wird der potenzielle Übeltäter sehr wahrscheinlich von seinem Vorhaben Abstand nehmen. Damit etabliert sich eine Ordnung, die sich in konzentrischen Kreisen vom Einzelnen ausbreitet und die Konstituierung von Kollektiven ermöglicht. Diese Kollektive entwickeln Identitäten, und diese Identitäten wiederum sind exklusiv. Sie definieren ihre Träger gegenüber jenen, die nicht Teil der Gemeinschaft sind. Der Träger des Bürgerrechts genießt innerhalb seiner Gemeinschaft Rechte, aber er bindet sich an diese auch mit Pflichten. In städtischen Bürgerschaften gehören zu diesen Pflichten etwa feste Abgaben beziehungsweise Steuern oder der Kriegsdienst. Kein Markt ohne Mauer, keine Mauer ohne Markt. Man kann sich leicht vorstellen, was passierte, wenn diese Aneinanderkettung von Rechten und Pflichten einseitig aufgekündigt würde.
Werden die Besitzrechte des Individuums innerhalb der kollektiven Ordnungen garantiert, so entwickeln sich Wirtschaft und Kultur – man könnte auch sagen: Wirtschaftskultur. Der Einzelne kann es aufgrund seines Geschicks und seines Fleißes zu etwas bringen. Da nicht jeder Mensch über Geschick und Fleiß verfügt und manche nur mit der einen oder der anderen Gabe versehen sind, differenziert sich die Gesellschaft aus. Sie straft den ewigen, durch die Marxisten neu artikulierten Wunsch Lügen, dass die Menschheit in völliger Gleichheit aufgehen solle. Gleichheit ist steril und langweilig. Ameisenarbeiter sind gleich. Kaulquappen sind gleich. Ungleichheit hingegen ist schöpferisch, weil sie Spannung erzeugt.
Genau hier setzt die besonders durch Karl Polanyi beeinflusste Kritik ein, nach der im Zuge der Herausbildung der Marktwirtschaft eine Umbettung beider Instanzen stattgefunden habe: Sei von der grauen Vorzeit bis vor wenigen Hundert Jahren die Wirtschaft in die Kultur eingebettet gewesen, so habe sich im Zuge einer „Great Transformation“ (so der Name seines Werkes) das Verhältnis umgekehrt: Die Kultur folgt nun den Regeln der Wirtschaft. Was hier allerdings Polanyi, die obligatorische arte-Doku und letztlich alle Verächter der „Kommerzialisierung“ verkennen, ist die Tatsache, dass alles Wahre, Schöne und Gute, ob babylonischer Tempel oder Deckenmalerei in der Sixtinischen Kapelle, schon immer seinen Preis hatte.
Kommerz und Kultur sind in einem Geflecht von wechselseitigen Beziehungen miteinander verbunden, so dass wir diese gar nicht als zwei voneinander separierte Instanzen begreifen können. Polanyi war zu sehr gefangen in der verquasten Logik seines marxistischen Religionssurrogats. Sein Kunstgriff in „The Great Transformation“ besteht darin, die Wechselhaftigkeit der Beziehung zwischen Kommerz und Kultur, Markt und Gemeinschaft auszublenden, wenn er für den Zeitpunkt X eine Umbettung dieser Instanzen konstruiert. Darüber hinaus – und das ist typisch für das marxistische Denken – misst er dem Individuum und dessen schöpferischer Kraft keinen Stellenwert bei. Wirtschaft, das ist für Polanyi und seine Genossen bloß ein Mittel zum Zweck. Der Zweck kann darin liegen, den Lebensstandard der Gemeinschaft zu sichern oder für „Gleichheit“ zu sorgen. Was er hingegen völlig missachtet, ist die Tatsache, dass das Wirtschaften an sich immer auch Ausdruck und Selbstverständnis des Einzelnen ist.