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Selenskyjs „Siegesplan“ – Hoffnung oder Gefahr?

30. September 2024
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Am 26. September führte die „Süddeutsche Zeitung“ ein Interview mit der Juristin und Slawistin Angelika Nußberger, in dem es auch um die Gründungsgeschichte der Ukraine ging. Auf die Frage, wer letztlich entscheide, welche historische Version richtig sei, erwiderte Nußberger:

„Niemand. Oft geht es auch gar nicht um historische Fakten, sondern um ihre Interpretation. Die Ukraine ist dafür ein gutes Beispiel. Im 17. Jahrhundert haben ukrainische Kosaken einen Pakt mit Rußland geschlossen, um militärischen Schutz vor Polen-Litauen zu erhalten. Die einen sagen nun, das sei ein Bündnis gleichberechtigter Waffenbrüder gewesen. Die anderen halten es für eine vorweggenommene Einverleibung. Diese Interpretationen stehen nebeneinander, und es gibt für beide gute Argumente.“

Daraufhin hakte die „SZ“ nach: „Keine Seite hat recht?“ Und Nußberger präzisierte:

„Es gibt niemanden, der das Recht hätte, endgültig zu bestimmen, welches Narrativ richtig oder falsch ist. Zumindest nicht in einer offenen Zivilgesellschaft.“

Die Redaktion der „SZ“ ficht das nicht an. „Es geht um die Legitimation“ heißt zwar die Überschrift des Interviews. Doch in der Unterzeile wird Nußbergers Aussage ins glatte Gegenteil verkehrt: „Die Ukraine – kein eigener Staat? Immer wieder verzerren Regierungen die Geschichte. / Juristin Angelika Nußberger erklärt, wie man mit solchen Lügen umgeht“. Hier soll ganz offensichtlich Präsident Putins Behauptung, die Ukraine sei über Jahrhunderte kein Staat und Russen und Ukrainer seien historisch ein einziges Volk gewesen, als Verdrehung der Tatsachen hingestellt werden.

Unstrittig ist indes, daß sich das Zarenreich unter Katharina der Großen im ersten russisch-türkischen Krieg 1774 mit der Eroberung der Krim erstmals den Zugang zu einem „warmen Meer“ sicherte – ein schon von Peter I. angestrebtes Ziel. Von einer staatlichen Existenz Kiews war ebenfalls noch keine Rede, als Katharina unter dem Namen „Neurußland“ (Noworossija) die Gebiete im Osten und Süden der heutigen Ukraine – also jene Ländereien, die Putin 2022 annektierte – ihrem Reich eingliedern und durch Kolonisten besiedeln ließ. 1802 wurde Noworossija eine Provinz des Zarenreichs und blieb bis 1917 integraler Bestandteil Rußlands.

Unzweifelhaft steht jedoch fest, daß Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war. Nach wie vor fordert er auf beiden Seiten Tausende von Toten und wird die Ukraine über kurz oder lang in einen einzigen Schutthaufen verwandeln. Daß die Rufe nach Frieden täglich lauter werden, ist daher verständlich. Doch wie soll er bewerkstelligt werden? Und was soll er beinhalten? Ein Minimalziel ist die Wiederherstellung und Achtung der nationalen Souveränität der Ukraine, während ihre territoriale Integrität Gegenstand von Verhandlungen werden dürfte, denn die Krim und das einstige Noworossija sind primär von Russen besiedelt.

Präsident Wolodimir Selenskyj zeigt sich gegenwärtig ebensowenig verhandlungsbereit wie Wladimir Putin. Während Rußlands Truppen langsam, aber stetig vorrücken, befinden sich die Ukrainer außer in der Region Kursk in der Defensive. Doch Selenskyj zeigt sich optimistisch und hat in den USA am 27. September einen „Siegesplan“ vorgelegt, dessen Inhalt unbekannt ist. Nur der US-Präsident und Vizepräsidentin Kamala Harris scheinen eingeweiht zu sein. Als das Gespräch mit Selenskyj begann, erklärte Joe Biden:

„Lassen Sie es mich klar sagen – Rußland wird im Krieg nicht siegen. Rußland wird sich nicht durchsetzen. Die Ukraine wird sich durchsetzen, und wir werden ihr weiterhin bei jedem Schritt zur Seite stehen.“

Bereits vor der Ankunft Selenskyjs hatte das Weiße Haus so deutlich wie noch nie erklärt:

„Präsident Biden ist entschlossen, der Ukraine die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie braucht, um zu gewinnen.“

Nicht nur Kurt Volker, ehemals US-Sondergesandter für die Ukraine und Botschafter bei der Nato, zieht daraus den Schluß, Biden und Kamala Harris seien bereit, Kiew die seit langem gewünschten weitreichenden Langstreckenwaffen zu liefern, wollen dies jedoch nicht vor den US-Wahlen im November öffentlich machen. Für die Republikaner wäre es eine „Steilvorlage auf dem Silbertablett“, denn schon jetzt werfe Donald Trump beiden vor, mit der Ukraine-Hilfe riskierten sie den dritten Weltkrieg. Trump selbst erklärte nach seinem kurzen Treffen mit dem ukrainischen Staatschef, Selenskyj sei der „größte Verkäufer der Welt. Wir geben weiterhin Milliarden Dollar an einen Mann, der sich weigert, einen Deal zu machen.“ Für Biden, so mutmaßt Volker, gehe es um dessen politisches Vermächtnis. Er sei nur noch vier Monate im Amt und wolle die Ukraine in die bestmögliche Position bringen. Daher komme er im Oktober nach Deutschland und werde am 12. des Monats auf dem US-Stützpunkt Ramstein die Konferenz der Ukraine-Unterstützer leiten.

Selenskyj erklärte, zu etwaigen Gebietsabtretungen sei Kiew nicht bereit. Kernelement seines „Siegesplans“ sei es vielmehr, daß die westlichen Verbündeten die Ukraine durch Waffenlieferungen in die Lage versetzen, Rußland militärisch derart in Bedrängnis zu bringen, daß Präsident Putin endlich in Verhandlungen einwilligt. Offenbar gehören zu den Waffen auch die von den USA gelieferten Streubomben, die seit 2010 von 110 Staaten geächtet sind – nicht aber von der Ukraine, Rußland und dem mächtigsten Nato-Mitglied Amerika.

Putin wiederum kündigte an, Moskaus Nukleardoktrin der „angespannten internationalen Lage“ folgendermaßen anzupassen:

„Eine Aggression gegen Rußland durch einen Nicht-Kernwaffenstaat, aber mit Beteiligung oder Unterstützung eines Kernwaffenstaates, soll als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet werden.“

Der Einsatz von Atomwaffen sei demnach möglich, wenn die Existenz Rußlands durch Angriffe auch mit konventionellen Waffen bedroht sei. Viele Beobachter werten diese Drohungen zwar offiziell als weiteren Versuch, den Westen davon abzuhalten, Kiew zu helfen, intern jedoch dürfte die Bereitschaft, den Ukrainern weitreichende Waffen zu liefern, nicht gerade groß sein – besonders nicht in Deutschland (siehe die „Taurus“-Marschflugkörper).

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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