Mit dem gestrigen Tag verstrich der erste Monat des Ukrainekrieges. Seit dem 24. Februar ist die westliche Berichterstattung beherrscht von Bildern brennender Panzer, zerbombter Städte und fliehender Menschen. Wie das mit Kriegen immer so ist: Mit zunehmendem Verlauf entwickeln sie ihre eigene, grausame Dynamik, die sich etablierten Erzählungen und Deutungsmustern schnell entziehen kann. Gestern zum Beispiel explodierte im russisch besetzten Hafen von Berdjansk ein Landungsschiff der Alligator-Klasse – zum jetzigen Zeitpunkt ist weder geklärt, ob es sich dabei um die „Orsk“ oder die „Saratow“ handelt, noch, ob die Versenkung das Ergebnis einer Kette unglücklicher Umstände oder eines ukrainischen Angriffs war.
Kriege, auch in Europa, sind nichts Neues. Harald Schmidt fragt nicht zu Unrecht, in welcher Welt die Verfechterin einer „feministischen Außenpolitik“ zuvor gelebt hat, wenn sie am Tag der Invasion in „einer anderen Welt aufgewacht“ sein will. Aber wenn die zurückliegenden Wochen – und damit auch der geschichtsträchtige 24. Februar – etwas zeigen, dann, dass sich der Lauf der militärischen, aber auch politischen und ökonomischen Dinge rapide ändern kann. Gestern zum Beispiel stellte ich vor dem heimischen Supermarktregal fest, dass das Pfund Kaffee meiner bevorzugten Sorte mittlerweile einen Euro teurer ist als vor einem Jahr. Allerdings war der Preis aufgrund der schlechten Kaffeeernte bereits letzten Sommer angestiegen. Wer weiß, vielleicht zahle ich in wieder einem Jahr noch mehr, vielleicht aber auch nicht.
Kurz vor Kriegsausbruch – die Medien waren beherrscht vom russischen Aufmarsch – bastelten wir an möglichen Szenarien für die kommenden Monate. Wir kalkulierten sowohl mit einer begrenzten russischen Militäraktion zur Wiederherstellung der Territorien der ostukrainischen Volksrepubliken als auch mit einem groß angelegten Einsatz östlich des Dnepr. In gewisser Weise ist Szenario 2 eingetreten – den tatsächlichen Verlauf hätten wir uns so nicht vorgestellt.
Für weitere Szenarien treffen wir folgende Annahmen: Russlands Invasion läuft nicht wie geplant, die Verluste sind hoch, der Vormarsch stockt. Die ukrainischen Verteidiger wehren sich erbittert, ihre Verluste sind allerdings ebenfalls sehr hoch. Auf beiden Seiten sind Tausende Soldaten gefallen, ein erheblicher Teil der militärischen Hardware ist zerstört, so dass zunehmend eingemottete Reserven der Sowjetära reaktiviert werden müssen. Millionen Ukrainer und Kiewer Studenten sind auf der Flucht, was die ost- und mitteleuropäischen Staaten stark belastet. Die Ukraine östlich des Dnepr ist völlig verwüstet, die Infrastruktur und die Städte der Westukraine werden zunehmend in Mitleidenschaft gezogen. NATO- und EU-Länder liefern Waffen, Freiwillige strömen in die ukrainische Fremdenlegion, die ökonomischen Repressionen gegen Russland werden von Seiten des Westens verstärkt. China, Indien und einige andere Staaten schließen sich dieser Sanktionierung nicht an und versuchen, zu vermitteln. Keine der Seiten kann in diesem Moment ihrem Gegner politische Zugeständnisse machen, denn beide Seiten kalkulieren mit einem, wenn auch teuer erkauften, Sieg.
Szenario 1: Gestrichene Fahne: Verwundert reibt man sich im Westen die Augen, als plötzlich Ende April die Ukraine kapituliert. Was ist hier los? Tja, die ukrainische Armee ist zwar gut, die ukrainische Propaganda hingegen besser. Die Russen haben Mariupol erobert und anschließend in einer Zangenbewegung gut Hunderttausend ukrainische Soldaten, die östlich des Dnepr stehen, eingekesselt. Abgeschnitten von westlichen Materiallieferungen, streckt man im Kessel die Waffen. Währenddessen ist auch im belagerten Kiew die Lage unhaltbar geworden. Der Krieg ist vorbei.
Szenario 2: „Lukaschenko, blyat, wo bleibst du?“: Der weißrussische Diktator gibt dem Druck aus Moskau nach und marschiert in die Westukraine ein. Er versperrt damit westlichen Materiallieferungen den Weg und blockiert Millionen Ukrainern die Fluchtroute ins Ausland. Hier wird es brenzlig, denn der Eingriff der Weißrussen erhöht auf EU und NATO den Druck, etwas zu tun.
Szenario 3: Roter Knopf: Die Russen entscheiden sich für einen Atomschlag, setzen hierbei aber auf die Signalwirkung. Irgendein kleiner, unbedeutender Fleck in der Westukraine wird ausgewählt und mit einer für atomare Verhältnisse kleinen Bombe ausradiert. Es geht um die Botschaft: „Wo die herkommt, gibt es noch mehr.“ Die ukrainische Regierung versteht diese Nachricht und kapituliert. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn wer weiß, ob der amerikanische Präsident nicht ebenfalls eine Botschaft verschicken will. In diesem Fall: Liebe Leser, es war uns eine Ehre.
Szenario 4: „Gute Fleunde sind nicht zu tlennen…“: Nach ein paar Monaten konventionellem Krieg entschließen sich die Chinesen dazu, die Russen offen zu unterstützen. Im fernen Peking will man endlich Ruhe in Osteuropa, denn man hat kein Interesse an einer weiteren Störung des Welthandels. Außerdem macht man das nicht umsonst. „Helf ich dil, hilfst du mil…“, signalisiert Xi Jinping damit an Putin. Vergessen wir nicht: China hat große Pläne und braucht dafür Taiwan.
Belassen wir es erst mal bei diesen vier Szenarien. Wie immer ist eine Kombination möglich. Lassen Sie uns in den Kommentaren wissen, was Sie davon halten oder was Ihre ganz eigenen Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf sind.