Letzte Woche haben wir die Sache mit dem Eigentum nochmals vertieft, wir haben die Wechselwirkung von Wirtschaft und Kultur erörtert, und außerdem fiel der Name Karl Polanyi. Heute, im nunmehr fünften Teil dieser improvisierten Reihe über den Kapitalismus (hier entlang zu Teil 1, 2, 3, 4), werden wir endlich auf die Produktion zu sprechen kommen. In den ersten Artikeln habe ich die Bedingungen des Kapitalismus genannt, welche da lauten:
- Privateigentum,
- Produktion durch private Initiative,
- freie Preisbildung an Märkten.
Produktion durch private Initiative, was heißt das also? Oder besser gefragt: Was heißt das nicht?
Im alten Ägypten zum Beispiel nahmen der Schiffbau und die Seefahrt einen wichtigen Stellenwert ein. Der Nil schlängelt sich von Süden ausgehend nach Norden, wo er in einem gewaltigen Delta in das Mittelmeer mündet, und im Osten des Reiches liegt das Rote Meer. Man kann einen Fluss wie den Nil religiös verehren, immerhin ermöglicht er an den Ufern den Ackerbau und ist damit die Grundlage der ägyptischen Zivilisation. Man kann ihn allerdings auch als Transportweg nutzen – als besonders praktisch erweist sich hier der Umstand, dass die Windrichtung der Stromrichtung entgegengesetzt ist und somit das Befahren des Nils von beiden Richtungen aus ermöglicht. Religiöse Verehrung oder schnöde Nutzbarmachung – kultureller Ausdruck und wirtschaftliches Handeln reichen sich auch hier die Hand.
Bildliche Darstellungen und auch Miniaturmodelle von Schiffen sind bereits aus dem Alten Reich (2707-2216 vor Christus) erhalten. Es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Schiffbau und zumindest die Flussschifffahrt bis in die vordynastische Zeit (4000-3032 vor Christus) zurückreicht.
Durch schriftliche Überlieferungen, bildliche Darstellungen und nicht zuletzt archäologische Erkenntnisse kann für den altägyptischen Schiffbau eine straff zentralisierte Arbeitsorganisation nachgewiesen werden. Verwaltungspapyri mit Rechnungen und Anweisungen geben darüber Auskunft, wie Arbeiter, Baumaterial und Werkzeuge an die entsprechenden Werften delegiert wurden, um dort Schiffe zu konstruieren, die durchaus – entsprechend ihrer Verwendung – in unterschiedliche Typen unterteilt waren.
Ägyptische Schiffe wiesen darüber hinaus einige konstruktionstechnische Besonderheiten auf: Weder besaßen sie einen Kiel, noch wurden die Planken auf eine skelettähnliche Grundkonstruktion angebracht. Stattdessen wurden die Planken miteinander verbunden und die Spanten erst nachträglich eingesetzt. Mit der Mangelware Holz musste sparsam umgegangen werden – jedes Schiffsbauteil war Eigentum des Pharaos, und es war nicht unüblich, dass die brauchbaren Hölzer nach der Zerlegung eines Schiffs für den Bau eines neuen wiederverwendet wurden.
Bevor wir zu sehr abschweifen – Schiffbau ist eben faszinierend! –, können wir also festhalten: Die Wirtschaft im alten Ägypten war, bezogen auf den Schiffbau (und wahrscheinlich auf die meisten Produktionsvorhaben), zentralistisch organisiert. Ein bürokratischer Apparat organisierte die Produktion und delegierte die Verteilung. Es ist ein in sich geschlossener Kreislauf, das Ganze erinnert etwas an Echtzeitstrategiespiele, in denen der Spieler mit der Macht des Cursors seine Arbeiterameisen von A nach B kommandiert.
Die erste Bedingung des Kapitalismus, Privateigentum, ist hier genau so ausgeschlossen wie die dritte Bedingung, nämlich die freie Preisbildung an Märkten. Im altägyptischen Schiffbau gibt es keine Arbeiter, die über ihre Arbeitskraft frei verfügen können, und keine Unternehmer, denen die Beschaffung eben dieser Arbeitskräfte und von Baumaterialien obliegt. Hier gibt es keinen Markt im kapitalistischen Sinne, für die Schiffe des Pharaos gab es daher keine Marktpreise. Der variable Preis als Informationsgeber über die Knappheit von Arbeitskräften und Baumaterialien ist in dieser Ordnung völlig ausgeklammert. Und dennoch muss sich dieses zentralistisch organisierte System mit Knappheit auseinandersetzen – im Falle Ägyptens eben mit der Knappheit von Holz, weshalb altägyptische Schiffe konstruktionstechnische Besonderheiten aufweisen.
Wirtschaft und Kultur waren auch im alten Ägypten untrennbar miteinander verflochten. Ich habe bereits die bildlichen Darstellungen von Schiffen und die Minitaturboote erwähnt – das eine drückt sich im anderen aus. Die Wirtschaftsverwaltung des alten Ägyptens ist ein ebenso beeindruckendes Zeugnis dieser Hochkultur wie ihre spektakulären Bauten. Und dennoch: Es hat einen Grund, wieso die Menschen, die Arbeiter, auf altägyptischen Darstellungen wie Klone wirken. In einer solchen Wirtschaftskultur gibt es keinen Platz für Einzelne, hier gibt es vor allem keine Chance für Individuen, aufgrund genialer Einfälle das Produkt oder gar seine Produktion weiterzuentwickeln. Eigennutz und freie Entfaltung als Triebkraft der eigenen Kultur sind hier fremd – in der Planwirtschaft ist der Einzelne nur ein Verbrauchsgegenstand.